„Ich bin ein Riesenfan von ihm. […] Ich habe ihn nur noch nicht in einem Film gesehen, in dem man ihn so eingesetzt hat, wie er es verdient. So wie ich ihn einsetzen würde“
(QT im Rahmen eines Interviews am Set von Pulp Fiction 1993 darüber, warum er John Travolta gecastet hat, der damals in Hollywood mehr oder weniger als „abgehalfterter Ex-Superstar“ galt)
„Es war eines der besten Drehbücher, die ich je gelesen habe. Düster, aber großartig“
&
„Film ist seine Knetmasse“
(John Travolta am Set von Pulp Fiction über Tarantino’s Qualitäten als Autor sowie über den Filmemacher QT im Allgemeinen)
Eines kann man Tarantino im Zusammenhang mit Pulp Fiction sicherlich nicht vorwerfen, nämlich, beim Casting die „falschen Entscheidungen“ getroffen zu haben.
Natürlich stand bei vielen Journalisten anfangs die brennende Frage „Why Travolta?“ im Raum, denn Travolta galt spätestens ab dem kommerziellen Flop des albernen „Aerobic-Märchens“ Perfect (1985; Regie: James Bridges; Co-Star: Jamie Lee Curtis) als so etwas wie „zuverlässiges Kassengift“ in Hollywood.
Also: Warum ausgerechnet Travolta? - John Travolta (Jahrgang 1954) zählte damals auf jeden Fall zu Tarantino’s Lieblingsschauspielern, denn der Darsteller war eben nicht nur, als „Tony Manero“ & als „Danny Zuko“, ein Teil der gefeierten 70er-Jahre-Smash-Hits Saturday Night Fever und Grease gewesen, sondern hatte auch Auftritte in zwei Filmen von Regie-Ikone Brian De Palma, der zu Tarantino’s großen Idolen gezählt hat und zählt, nämlich in der Stephen King-Verfilmung Carrie – Des Satans jüngste Tochter (1976; Carrie; in der Hauptrolle: Sissy Spacek) und eben in dem Thriller Blow Out – Der Tod löscht alle Spuren (Travolta’s Co-Stars: Nancy Allen & John Lithgow) von 1981 (Anmerkung: Einige Bilder in Pulp Fiction, als „Director of Photography“ fungierte ja derselbe Kameramann wie bei Reservoir Dogs – Wilde Hunde, nämlich Andrzej Sekula, sind auch eindeutig an den visuellen Stil des Travolta-Kultklassikers Urban Cowboy von 1980 angelehnt, den Tarantino der Öffentlichkeit damals wieder in Erinnerung rief).
Mit einem Mythos, und das wurde auch Tarantino in der Pulp Fiction-Zeit irgendwie nicht müde in Interviews zu betonen, muss man jedoch aufräumen: Tarantino hat die berühmte „Vincent Vega & Mia Wallace“-Tanzszene im „Jackrabbit Slim‘s“-Diner nicht sozusagen exklusiv für Travolta geschrieben!
Der Regisseur musste allerdings eingestehen, dass die Tatsache, dass man in Pulp Fiction ausgerechnet den legendären „Tony Manero“- & „Danny Zuko“-Darsteller Travolta wieder tanzen sieht, die Tanzszene und den Film im Allgemeinen noch mal in ganz andere „Sphären“ katapultiert hat: „Alle denken immer, dass ich die Szene schrieb, damit Travolta tanzt. Die Szene gab es, bevor John Travolta engagiert wurde. Aber dann war klar: Toll, John wird wieder tanzen“ (Quelle: Charlie Rose-Show 1994).
Ursprünglich hatte man die Rolle des Marsellus Wallace-Handlangers „Vincent Vega“ dem Reservoir Dogs-Star Michael Madsen angeboten, der es aber damals vorzog, an der Seite von Kevin Costner in Lawrence Kasdan‘s epischem Western Wyatt Earp – Das Leben einer Legende (1994; Wyatt Earp) aufzutreten – ein Schritt, den Madsen danach klarerweise bereute, vor allem, weil auch Tarantino’s 2004, also in der Post-Kill Bill-Zeit, einmal angedachtes Pulp Fiction-Prequel „The Vega Brothers“, in dem Travolta & Madsen „Vincent & Vic Vega“ hätten spielen sollen, dann doch nie realisiert wurde. Als weiterer „Vincent Vega“-Kandidat, den sogar die Verantwortlichen bei Miramax im Grunde favorisierten, galt der mittlerweile 3-fache Hauptrollen-Oscar-Preisträger Daniel Day-Lewis.
Die Anzahl an Monologen und „casual conversations“ in Pulp Fiction ist einzigartig und es ist wahrlich schwer, Dialogpassagen zu finden, die mittlerweile nicht „iconic“ sind. Das, was schon an Tarantino’s Debüt Reservoir Dogs – Wilde Hunde so auffällig war und was sich Tarantino ganz offensichtlich ein wenig von „Nouvelle Vague“-Ikone Jean-Luc Godard abgeschaut hat, nämlich die ganzen Exkurse und Dialoge „pseudophilosophierender Berufsverbrecher“ (Anmerkung: Deren schwarze Anzüge sind auch in Pulp Fiction, ähnlich wie übrigens die „Kleidung der Verbrecher“ in den Filmen des von QT geschätzten französischen Regisseurs Jean-Pierre Melville, wiederum „symbolic suits of armor“), gerät in Pulp Fiction zur Perfektion und erreicht ein Level, das der Filmemacher -vielleicht- selbst nie mehr erreicht hat.
Unübertroffen bleiben auf jeden Fall auch die Dialoge zwischen „Vincent Vega“ John Travolta und seinem „Partner-in-Crime“ „Jules Winnfield“ Samuel L. Jackson im Prologteil des Films, in denen nicht nur „Amsterdam“ und „Europa“ erwähnt werden, sondern auch die „Tony Rocky Horror-Mia Wallace-Fußmassage“-Geschichte von den beiden abgehandelt wird, also die Gerüchte darüber angesprochen werden, dass Marsellus Wallace den besagten „Tony“ vom Balkon hat werfen lassen, weil dieser seiner Frau Mia die Füße massiert hat. Die „John Travolta & Samuel L. Jackson-foot massage-conversations“ werden im Grunde von folgenden Dialogpassagen eingeleitet, die von Travolta und Jackson „abgearbeitet“ werden, als sie durch die „reception area“ (Copyright: QT-Skript) des Apartment-Komplexes marschieren und dann in einen Lift steigen:
JULES
Erinnerst du dich an Antwan Rockamora? Halb-schwarz, halb-samoanisch. Man nannte ihn `Tony Rocky Horror`.
VINCENT
Ja, glaub schon. Fett, richtig?
JULES
Ich würd‘ nicht so weit gehen, den Bruder fett zu nennen. Der Bursche hat nur ein Gewichtsproblem. Was soll der N***** tun, ist halt Samoaner.
VINCENT
Ja, schon klar, was du meinst. Was is‘ mit dem?
JULES
Na ja, Marsellus hat ihn ziemlich durch die Mangel gedreht. Was ich gehört habe, ging es um Marsellus Wallace’s neue Frau. […] Er hat ihr die Füße massiert.
(aus: Pulp Fiction; Dialog gemäß der deutschen Synchro; Originalfassung laut Tarantino-Skript: JULES: „You remember Antwan Rockamora? Half-black, half-Samoan, usta call him `Tony Rocky Horror`“ / VINCENT: „Yeah, maybe. Fat, right?“ / JULES: „I wouldn’t go so far as to call the brother fat. He’s got a weight problem. What’s the n***** gonna do, he’s Samoan“ / VINCENT: „I think I know who you mean. What about him?“ / JULES: „Well, Marsellus fucked his ass up good. And word around the campfire is, it was on account of Marsellus Wallace’s wife. […] He gave her a foot massage“)
John Travolta hat für Pulp Fiction auf einen Großteil seiner damals üblichen Gage verzichtet und einer „reduced rate“ von etwa 140.000$ zugestimmt. Der immense „critical & commercial success“ von Pulp Fiction (Anmerkung: Travolta erhielt für die „Vincent Vega“-Rolle sogar eine Oscar-Nominierung in der Kategorie „Best Actor“, was seine zweite Nominierung in dieser Kategorie nach jener für die „Tony Manero“-Rolle in Saturday Night Fever von 1977 war) hat Travolta’s Karriere entscheidend „revitalisiert“ und durch den Karriere-Boost wurde Travolta in den Pulp Fiction-Folgejahren bekanntlich wieder zu einem „major movie star“ in Hollywood (Anmerkung: Wenn man so will, wurde Travolta auch zu einer Art „Hoffnung für alle übergewichtigen Männer, dennoch `cool` aussehen zu können“) sowie Mitglied im exklusiven „20 Millionen Dollar Gage pro Film“-Club, zu dem damals Filmstars wie Tom Cruise, Mel Gibson oder Harrison Ford gehörten.
Der Schauspieler war bis einschließlich 1999 in einer ganzen Reihe von „good movies“ (z. B.: 1995: Schnappt Shorty; 1996: Operation: Broken Arrow; 1998: Mit aller Macht - Primary Colors; 1998: Zivilprozess; 1999: Wehrlos – Die Tochter des Generals) sowie auch „masterpieces“ (1997: Face/Off – Im Körper des Feindes von John Woo; 1998: Der schmale Grat von Terrence Malick) zu sehen, bis der Scientologe Travolta seine Karriere gleichsam ein zweites Mal -ein wenig- an die Wand fuhr, nämlich mit der von ihm mitproduzierten und völlig misslungenen Verfilmung eines Science Fiction-Romans des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard, betitelt mit Battlefield Earth – Kampf um die Erde (2000; Battlefield Earth; Regie: Roger Christian; Co-Star: Forest Whitaker).
Als beste Werke mit „Travolta-Beteiligung“ in den letzten 15 Jahren müssen die durchaus erfolgreiche „Biker-Komödie mit Slapstick-Einlagen“ Born to be Wild – Saumäßig unterwegs (2007; Wild Hogs; Regie: Walt Becker; Co-Stars: Tim Allen, Martin Lawrence & William H. Macy) sowie die großartige Staffel 1 (2016) der „true crime anthology television series“ American Crime Story, betitelt mit The People v. O. J. Simpson (als O. J. Simpson: Cuba Gooding, Jr.), gelten. In der 10-teiligen TV-Serie spielt Travolta, der auch Mit-Produzent dieser wirklich mitreißenden Aufarbeitung des Simpsons-Falls war, den US-Staranwalt Robert Shapiro, der zu dem sogenannten „Dream Team“ gehörte, das O. J. Simpson’s Freispruch erkämpfte.
JULES
[…] Ezekiel 25:17. `The path of the righteous man is beset on all sides by the inequities of the selfish and the tyranny of evil men. Blessed is he who, in the name of charity and good will, shepherds the weak through the valley of darkness, for he is truly his brother’s keeper and the finder of lost children. And I will strike down upon thee with great vengeance and furious anger those who attempt to poison and destroy my brothers. And you will know my name is the Lord when I lay my vengeance upon you`.
(aus: Pulp Fiction; „skriptgetreue“ Originalfassung des berühmten „Ezekiel 25:17“-Zitats von „Jules Winnfield“ Samuel L. Jackson; Statement von Winnfield dazu dann in der „Hawthorne Grill“-Restaurant-Szene am Ende: „Also, den Spruch bring ich jetzt schon seit Jahren. Und wer immer ihn gehört hat, wusste, es geht um seinen Arsch. Ich hab nie viel darüber nachgedacht, was er bedeutet. Ich fand einfach, das ist ein ziemlich kaltblütiger Spruch, den ich einem Wichser erzählen konnte, bevor ich ihn umlegte.“)
Ebenfalls eine Filmlegende, wie seine beiden Pulp Fiction-Co-Stars John Travolta und Bruce Willis, ist mittlerweile auch Samuel L. Jackson (Jahrgang 1948), den man sicherlich als einen der größten afro-amerikanischen Filmstars aller Zeiten bezeichnen kann (Anmerkung: Sowohl mit Travolta als auch mit Willis hat Jackson in den Post-Pulp Fiction-Jahren Filme gedreht, denn 1995 spielte er an der Seite von Willis in dem Action-Hit Stirb langsam: Jetzt erst recht, der bis heute mit Abstand besten Stirb langsam-Fortsetzung, und 2003 dann an der Seite von Travolta in dem Thriller Basic – Hinter jeder Lüge steckt eine Wahrheit, der aber, trotz der ambitionierten „multiperspektivischen & Rashomon-artigen Struktur“, von Kritik und Publikum eher zurückhaltend aufgenommen wurde).
Tarantino schrieb die Rolle des „Jules Winnfield“, der sich, ebenso wie sein Partner „Vincent Vega“, im Laufe des Films als ein viel komplexerer Charakter entpuppt, als es das „Unterwelt-Image“ vermuten ließe, angeblich bereits mit Samuel L. Jackson „in mind“ - und der Schauspieler gab sich, wie die meisten Schauspieler, die damals das Pulp Fiction-Skript in die Hände bekamen, auf Anhieb begeistert von dem „Personal“, das sich darin tummelte (Samuel L. Jackson in der Doku Pulp Fiction: The Facts über seinen Eindruck nach der Skript-Lektüre: „Man hörte diesen Typen zu und erkannte, dass diese Kerle über Alltägliches sprachen, aber eine einzigartige Lebenseinstellung hatten. Das war ziemlich heftig“).
Allerdings wurde Jackson, der sich in den Folgejahren zum wahren „Tarantino-Veteranen“ entwickelte (Jackson hatte Rollen in Jackie Brown, in Kill Bill Vol. 2, in Django Unchained und in The Hateful Eight – in Inglourious Basterds ist er nur als Erzählstimme zu hören), bei der „first audition“ für die Winnfield-Rolle, die im Grunde nur aus einer Lesung des Drehbuchs bestand, noch von dem späteren „Paul“-Darsteller Paul Calderon übertrumpft. Erst im Rahmen der „second audition“ konnte Jackson Tarantino mit seiner Performance der finalen „Hawthorne-Grill“-Restaurant-Szene überzeugen, in der der Schauspieler dann auch im fertigen Film tatsächlich so ziemlich jedem in Pulp Fiction, selbst Travolta, die Schau stiehlt und den Film für einige Minuten ganz und gar zu seinem macht.
Übrigens: Ursprünglich war geplant, dass Samuel L. Jackson in Pulp Fiction einen „gigantischen Afro“ tragen sollte, aber da Miramax gegen den „giant afro“ war, willigten Tarantino und Jackson ein, der Winnfield-Figur eine sogenannte „Jheri-Locken“-Perücke zu verpassen, die für eine Art „permanent wave hairstyle“ steht, der unter Afro-Amerikanern in den „1980s“ populär war und der nach dem US-Hairstylisten Jheri Redding benannt wurde. Von einigen Kritikern wurde Jackson’s „Jheri-curled-wig“ sogar als „leises Comic-Statement über die Ghettoisierung von Schwarzen in Filmen“ interpretiert (bzw. möglicherweise überinterpretiert).
Natürlich trägt auch der „langhaarige“ John Travolta eine Perücke in Pulp Fiction, nur hat sich sehr viel später herausgestellt, dass Travolta seit einer Ewigkeit generell mit Perücken in der Öffentlichkeit unterwegs ist, was ihn nach dem diesbezüglichen „Outing“ dazu bewogen hat, in Filmen wie From Paris with Love (2010; Regie: Pierre Morel) oder dem Oliver Stone-Thriller Savages (2012) erstmals überhaupt glatzköpfig oder zumindest ohne „künstliches Haarteil“ aufzutreten.
(ENDE von Teil 3.1 - Neu überarbeitete Fassung; Ur-Fassung: 05.04.2020)