Ausschnitt aus "NO PULP IN THE FICTION" (Buch; 2020): Kapitel "PULP FICTION" (Teil 4[von 4])                    [EXPLICIT CONTENT]

 

Quentin Tarantino ist nicht nur gleichsam ein „auteur“ mit ausgeprägtem Interesse an popkulturellen Artefakten und Ideen, sondern hat definitiv auch etwas von einem „Kino-Kleptomanen“ (Copyright: Gary Groth in „A Dream of Perfect Reception: The Movies of Quentin Tarantino“ von 1997) an sich, der sich bei allem Möglichen bedient, ohne dabei jedoch, wie bereits im Kapitel über Reservoir Dogs – Wilde Hunde angedeutet, die eigene Handschrift zu verlieren.

In Pulp Fiction, einem Film, der mittlerweile selbst übrigens vom AFI (American Film Institute) ganz offiziell zu den „100 Greatest American Movies Of All Time“ gezählt wird (Pulp Fiction belegte in dem vom „üblichen Verdächtigen“ Citizen Kane angeführten Poll „AFI’s 100 Years...100 Movies“ von 2007 Platz 94, „eingeklemmt“ zwischen Scorsese’s Good Fellas & Peter Bogdanovich’s Die letzte Vorstellung), befinden sich demnach nicht nur Anspielungen auf Aldrich’s Rattennest, sondern natürlich auch zahlreiche andere „Hommagen“ an Filme oder TV-Serien (z. B. eben auch -in einer Aussage von „Jules“ im Hawthorne Grill-Restaurant- an die 70er-Jahre-Fernsehserie Kung Fu mit David Carradine, dem späteren „Bill“-Darsteller in den beiden Kill Bill-Filmen).

Hier eine kleine Auswahl an „homages to other movies“, die sich aber, um das Ganze einzugrenzen, wirklich nur auf Kinofilme bezieht, die QT möglicherweise -an einigen Stellen- beim Schreiben und beim Filmen im Hinterkopf gehabt haben mag:

Die wichtigste Szene in Pulp Fiction bleibt die Tanzszene mit Travolta und Thurman. Mag sich Tarantino auch noch so bemüht haben, zu betonen, die Szene wäre keine Hommage an Saturday Night Fever, sondern inspiriert von einer entsprechenden „dance sequence“ in dem Jean-Luc Godard-Film Die Außenseiterbande, so hat man bei der Szene dennoch unweigerlich das Gefühl, dass hier „Tony Manero“ auf Travolta’s und somit „Vincent Vega’s“ Schultern sitzt. „Tony Manero“ und Saturday Night Fever sind sozusagen fester Teil der „US-Kosmologie & US-Mythologie“ und naturgemäß nur wenige Leute in den USA, in Europa oder sonst wo haben einen Godard- und somit „Arthouse“-Film im Kopf, wenn sie die besagte Szene sehen. Was beim Tanzen im „Jackrabbit Slim’s“ passiert, ist daher nichts weniger als Folgendes: Man kommt wieder mit dem Mythos eines Hollywood-Stars in Berührung, der lange Zeit „in Ungnade“ gefallen war, aber dennoch in der Erinnerung vieler der „King of Disco“ geblieben ist!

Für die Szene, in der Butch Coolidge mit dem Honda vor dem Zebrastreifen hält und dabei ausgerechnet Marsellus Wallace begegnet, mag eine ähnliche Szene aus Alfred Hitchcock’s Psycho Pate gestanden haben, denn dort hält die von Janet Leigh gespielte Sekretärin & Diebin „Marion Crane“ ebenfalls mit ihrem Wagen bei einem Zebrastreifen an und wird dabei von ihrem Boss „Mr. Lowery“ gesehen, der diesen quert und sich verwundert gibt, weil sie sich zuvor bei ihm „krank“ gemeldet hat (in Wahrheit hat sie 40.000$ unterschlagen, die einem Kunden ihres Bosses gehören, und will die Stadt verlassen). 

Die zwei sadistischen „hillbillies“ „Maynard & Zed“ (Anmerkung: „Zed“ ist übrigens haargenau nach dem „character“ benannt, den Sean Connery in John Boorman’s Science Fiction-Film Zardoz von 1974 spielt) könnten direkt dem großartigen und mehrfach Oscar-nominierten John Boorman-Film Beim Sterben ist jeder der Erste (1972; Deliverance; Anm.: Der Film ist quasi derjenige, den Boorman unmittelbar vor Zardoz gedreht hat) entstammen, in dem es die „Städter“ Jon Voight, Burt Reynolds, Ned Beatty & Ronny Cox, die gemeinsam eine Kanu-Tour in Georgia machen wollen, plötzlich mit zwei sadistischen „Rednecks“ („Bill & Herbert“; Redneck: abfällig für „armer weißer Landarbeiter“) zu tun bekommen, die „Bobby“ Ned Beatty sogar vergewaltigen. Auch in Boorman’s düsterer Parabel über „städtischen Hochmut in der rauen Natur“ setzen sich die gepeinigten Männer dann mit Waffengewalt zur Wehr. Kritisiert wurde, dass, während die Vergewaltigungsszene in Beim Sterben ist jeder der Erste quasi purer „horror“ ist und in der Folge im Film auch weiteren „horror“ auslöst, Tarantino der Szene in Pulp Fiction gleichsam sofort den „Schrecken der Gewalt“ wieder wegnimmt, weil er am Ende alles nur darauf reduziert, dass Butch lediglich den „single weirdest day of [his] entire life“ (BUTCH zu FABIENNE - Dialogpassage aus QT-Skript) hatte.

Tarantino hat, vom Rolling Stone-Magazin in einem Interview 1994 auf die umstrittene Vergewaltigungsszene in Pulp Fiction angesprochen, gemeint, dass sich, im Gegensatz eben zu seinem Film, in einem Werk wie dem Gefängnis-Drama American Me (1992; Regie: Edward James Olmos; dt. Verleihtitel: Das Gesetz der Gewalt), welches 1992 in Cannes sogar im Palme d’Or-Parallelwettbewerb „Un Certain Regard“ lief, gleich drei derartige Szenen befänden: „There’s like three butt-fucking scenes in `American Me`. That’s definitely the one to beat in that particular category“.

Butch’s „Wahl der Waffen“ im Pfandleihshop, bei der natürlich die Tarantino-spezifische Kombination von „humor“ & „strong violence“ in Pulp Fiction mitunter am deutlichsten zum Ausdruck kommt, hat natürlich auch Anlass zu „Spekulationen“ darüber gegeben, welche möglichen Anspielungen auf andere Filme sich dahinter verstecken könnten.

Der Hammer wurde als Hommage an den „US slasher film“ The Toolbox Murders (Regie: Dennis Donnelly) von 1978 interpretiert, in dem der „serial killer“, unter anderem, auch mit einem Hammer zur Tat schreitet.

Der Baseballschläger wurde als Anspielung auf den Brian De Palma-Film The Untouchables -Die Unbestechlichen (1987; The Untouchables) mit Kevin Costner und Sean Connery gedeutet, wobei aber auch der Action-Streifen Der Große aus dem Dunkeln (Walking Tall; Regie: Phil Karlson) von 1973 als mögliches Vorbild genannt wurde. In dem De Palma-Film benutzt „Al Capone“ Robert De Niro einmal einen Baseballschläger als Mordwaffe und in Der Große aus dem Dunkeln rächt sich „Sheriff Bufford Pusser“ Joe Don Baker an den Mördern seiner Frau mit einem solchen.

Die Kettensäge wiederum, die „Butch Coolidge“ Bruce Willis als Waffe kurz in Erwägung zieht, könnte eine „Verbeugung“ vor Horrorklassikern wie Blutgericht in Texas (1974; The Texas Chain Saw Massacre; Regie: Tobe Hooper) oder Tanz der Teufel 2 (1987; Evil Dead II – Dead by Dawn; Regie: Sam Raimi) sein, denn im 74er-Film rennt bekanntlich der Killer „Leatherface“ mit einer Kettensäge durch die Gegend und in Raimi’s aberwitziger Fortsetzung seines Kultklassikers Tanz der Teufel (1981; The Evil Dead) endet die von Bruce Campbell gespielte Hauptfigur „Ash“ mit einer Kettensäge an der Hand, soll heißen: mit einer Kettensäge an Stelle jener Hand, die er sich, wegen „akuter Teufelsbesessenheit“ dieser Hand, abschneiden musste.

Die Tatsache, dass sich Coolidge dann letztendlich für das Samurai-Schwert entscheidet, wurde nicht nur Tarantino’s offensichtlicher Begeisterung für Eastern zugeschrieben und den zahlreichen Klassikern, die sich hier als „filmische Vorbilder“ anbieten (z. B.: der „Jahrhundertfilm“ Die sieben Samurai von Akira Kurosawa aus 1954 oder der von QT geschätzte „B-Eastern“ Henker des Shogun von Kenji Misumi & Robert Houston aus 1980), sondern auch dem Umstand, dass der „bully & jerk“ Coolidge, der im Grunde ein „unrühmlicher Bastard“ par excellence ist, sich an dieser Stelle des Films, mit dem „Katana“ (japanischer Begriff für das „japanische Langschwert“) in seiner Hand, zu so etwas wie einem „honourable hero“ entwickelt, der sich plötzlich einem „moralischen Code“ verpflichtet fühlt und sogar seinem nunmehrigen „Erzfeind“ Marsellus Wallace zur Hilfe eilt. 

Jules Winnfield’s „Ezekiel 25:17“-Bibel-Zitat entspringt ebenfalls QT’s Begeisterung für Eastern und vor allem der Begeisterung für den japanischen Filmstar Sonny Chiba, den Tarantino später als „Schwertschmied-Meister“ „Hattori Hanzo“ in Kill Bill besetzte, denn in dem Martial Arts-Film Kiba, der Leibwächter (1976; Karate Kiba; Regie: Ryuichi Takamori & Simon Nuchtern) kommt ganz zu Beginn ein dem „Ezekiel“-Zitat beinahe identisches „Credo & Glaubensbekenntnis“ vor, das sowohl als „scrolling text“ erscheint als auch noch zusätzlich von einer Erzählstimme vorgelesen wird.

Der von Harvey Keitel in dem Abschnitt „THE BONNIE SITUATION“ verkörperte „crimeworld cleaner“ „The Wolf“ soll übrigens „inspired“ von dem Kurzfilm Curled (1991; Regie: Reb Braddock) gewesen sein, den Tarantino bei einem Filmfestival gesehen hatte und in dem eine „Tatort-Reinigungskolonne“ vorkommt, die von „Gabriela“ Angela Jones angeführt wird. Tarantino war von Braddock’s Film dermaßen angetan, dass er für Pulp Fiction eben nicht nur den von Keitel gespielten „Wolf“ kreierte, sondern auch die „Gabriela“-Darstellerin Angela Jones als neugierige Taxifahrerin „Esmarelda Villalobos“ besetzte. 1996 fungierte QT dann bei einer Spielfilmversion des einstigen Kurzfilms, deutscher Verleihtitel: Curled – Der Wahnsinn, in welcher wiederum Angela Jones als „Gabriela“ zu sehen war, als Produzent.

 

  

Zu Beginn der Dokumentation Pulp Fiction: The Facts heißt es einmal: „Modern cinema would never be the same“.

Und tatsächlich: Tarantino’s im Mai 94 (US-Premiere: 10. September 1994) bei den Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme dekoriertes Meisterwerk, das auch, wie bereits erwähnt, ein Oscar-prämiertes „masterpiece of screenwriting“ ist (Anmerkung: QT’s Skript war in Großbritannien sogar ein Top Ten-Buchbestseller!), spielte weltweit rund 214 Millionen US-Dollar ein und hatte nicht nur einen „strong effect“ auf das Independent-Kino, sondern gilt als so etwas wie ein „cultural watershed“, ein „kultureller Wendepunkt“, der 90er-Jahre und somit auch als „defining movie of the decade“.

Der Einfluss von Tarantino’s zweiter Regie-Arbeit auf die Filmbranche war in der Tat enorm und rief auch eine ganze Reihe von „QT-Epigonen“ und „wannabes“ auf den Plan, die versuchten, Pulp Fiction-Stilelemente (Humor, „strong violence“ & „ungezwungene Gespräche“) irgendwie nachzuahmen (Anmerkung: Einige Werke von „QT-wannabes“ werde ich im nächsten Kapitel dieses Buches erwähnen, das von „The Man from Hollywood“ handeln wird, Tarantino’s Beitrag zu dem Episodenfilm Four Rooms).

Hier einige -deutsche- Pressestimmen von damals - Die Süddeutsche Zeitung etwa meinte: „Tarantino hat die Episoden von ein paar Amateurdieben, Profikillern, Gangsterbossen und einsamen Wölfen zu einem einzigen, riesigen Kalauer verquickt. Scherz, Satire, Ironie, dies alles beherrscht Tarantino aus dem Effeff“. Die Zeitschrift Tempo sprach vom „[…] beste[n] Film, den es in diesem Jahr zu sehen gibt“ und die deutsche Wochenzeitung Die Zeit meinte nur: „Pulp Fiction: ein Monster, ein Gewinner!“. Die Programmzeitschrift TV-Movie bescheinigte Tarantino ein „[t]odsicheres Gespür für Tempo und Atmosphäre“ zu haben und nannte den Film „Ein Meisterwerk des Genres – ein Muss!“. Folgende „Lobeshymne“ der Filmzeitschrift Cinema schien aber damals die Sache irgendwie am treffendsten auf den Punkt zu bringen: „Tarantino schreibt so gut wie [David] Mamet, konstruiert so geschickt wie Altman und erzählt so vital wie Scorsese“ (Anmerkung: Der MASH- & Nashville-Regisseur Robert Altman wurde seinerzeit deswegen plötzlich wieder als Beispiel für „well constructed movies“ herangezogen, weil diesem 1992 & 1993 mit tatsächlich überragend konstruierten Filmen wie The Player und vor allem Short Cuts ein großes Comeback gelungen war).

Auch in den USA wurde Pulp Fiction, neben der vielleicht wenig überraschenden Tatsache, dass sich damals gewisse „konservative Kreise“ und sogar führende „Republicans“ wegen gewisser „expliziter Inhalte“ eine Zeit lang auf das Werk eingeschossen haben, von der Kritik überwiegend als „body of work that might just completely redefine cinema“ gefeiert - sowie als Film, bei dem, um die Tarantino-Freundin und ehemalige L. A. Weekly-Journalistin Manohla Dargis indirekt zu zitieren, die schwierige Gratwanderung zwischen „künstlerischer Verhüllung“ und „kommerzieller Präsenz“ von seinem Schöpfer auf brillante Weise gemeistert wurde.

Während einige Stimmen durchaus den „extensive use“ des „N-Wortes“ in Pulp Fiction kritisierten, bezeichnete der US-Kritiker Alan Stone 1995 den Film sogar als „politisch korrekt“ und lieferte in der Zeitschrift Boston Review auch die Begründung dafür: „There is no nudity and no violence directed against women […]. [It] celebrates interracial friendship and cultural diversity; there are strong women and strong black men, and the director swims against the current[Strom] of class stereotype“.

Grundsätzlich taucht Pulp Fiction in den USA mittlerweile regelmäßig in fast sämtlichen von Kritikern erstellten Listen der „greatest films ever made“ auf und das Werk wurde 2013 sogar in das „United States National Film Registry“ aufgenommen, was bedeutet, dass der Tarantino-Film mittlerweile als „culturally, historically, or aesthetically significant“ betrachtet wird.

 

 

 

EPILOG

 

OK, nicht alles an den USA ist schlecht, denn: Immerhin werden dort Websites produziert, die sich mit folgender Frage auseinandersetzen, die auch ich mir persönlich im Grunde schon seit Langem stelle: „Why hasn’t QT worked with John Travolta again?

Nun: „Warum hat John Travolta nach `Pulp Fiction` nie mehr in einem Tarantino-Film gespielt?“ Das ist auch deshalb irgendwie verwunderlich, weil Tarantino über die Jahre nun wahrlich so etwas wie eine „Gang“ um sich versammelt hat, zu der Schauspieler wie Tim Roth, Samuel L. Jackson, Michael Madsen und mittlerweile auch Kurt Russell gehören. Zudem hat QT auch mit Harvey Keitel, Uma Thurman, Christoph Waltz, Brad Pitt, Leonardo DiCaprio und sogar mit Bruce Willis (in Pulp Fiction & „The Man from Hollywood“) zumindest zweimal zusammengearbeitet.

Meine persönliche Antwort und „theory“ dazu lautet: John Travolta passt nicht natürlicherweise in Independent-Filme!

So wie das „natürliche Terrain“ von Freddie Mercury & Co, also von Queen, nicht irgendwelche Clubs oder kleine Konzerthallen waren, sondern bekanntlich eher das Wembley-Stadium, denn niemand hatte dieses (-man denke an den Live Aid-Auftritt vom Juli 85 oder an dessen „Fiktionalisierung“ in dem Bio-Pic Bohemian Rhapsody-) so unter „Kontrolle“ wie Mercury & Queen, sind „Independent films“ & „Tarantino movies“ ganz und gar nicht das „natürliche Terrain“ des Filmstars Travolta, dessen dominante „Movie Star“-Präsenz, die im Übrigen noch viel stärker ist als jene von Willis oder DiCaprio, weit besser in „Studio-Produktionen“ und Filme wie Face/Off - Im Körper des Feindes oder Wehrlos – Die Tochter des Generals (im Übrigen mein John Travolta-Geheimtipp!) reinpasst. 

Im Grunde ist also nicht die Tanzszene in Pulp Fiction so etwas wie „John Travolta pur“, sondern viel eher der ultimative „star making moment“ von Saturday Night Fever, nämlich jener, in dem sich Travolta, nachdem etwa eine Stunde des Films vergangen ist, solo auf der Tanzfläche der Diskothek „2001 Odyssey“ die Seele aus dem Leib tanzt!

 

 

 

Ah, ha, ha, ha, stayin‘ alive, stayin‘ alive

Ah, ha, ha, ha, stayin‘ alive

 

(aus dem Song „Stayin‘ Alive“ von den Bee Gees; Saturday Night Fever-Soundtrack)

 

 

 

(ENDE von TEIL  4 - Neu überarbeitete Fassung; Ur-Fassung: 12.04.2020)