Wie soll man einem Film begegnen, der es schafft, zu einem kulturellen Phänomen zu werden?
Hin und wieder passiert es, dass Werke der Kunst, Bücher, Musikalben oder eben Filme, Bedeutungen erlangen, die weit über die an sich ja doch stets beschränkten oder eingeschränkten Wirkungsbereiche der jeweiligen Kunstform hinausgehen. Soll heißen: Die Werke oder zumindest Aspekte daraus werden Teil des kollektiven Bewusstseins und schaffen es beispielsweise sogar, die hartnäckigsten „Nicht-Kino-Geher“ hinterm Ofen hervorzulocken. Quentin Tarantinos Pulp Fiction aus dem Jahr 1994 war etwa so ein Film und als ich irgendwann im Jahr 1995 in einem Grazer Kino in einer Spätvorstellung saß, konnte ich mich davon selbst überzeugen, denn dort erlebte ich das erste und einzige Mal, dass nach einer ganz normalen Kinovorstellung geklatscht wurde. Der Film hatte wohl damals den Zeitgeist getroffen beziehungsweise einen neuen begründet, ein Kunststück, das der Band Nirvana 1991 mit ihrem Album Nevermind zuvor schon in der Musikwelt gelungen war, und das Publikum, einschließlich ich selber, dankten es ihm eben mit „ungewöhnlichen Begeisterungskundgebungen“.
Ein diesbezüglicher Coup gelang, in jüngerer Vergangenheit, sicherlich auch den Machern des James Bond-Films Casino Royale (2006; Regie: Martin Campbell), der es wahrlich geschafft hat, ganz neue Publikumsschichten zu erobern. Das Phänomen Bond schien plötzlich selbst bei dem „vorsichtigsten“, skeptischsten und ansonsten bei massentauglicher Ware die Nase rümpfenden akademischen Publikum offiziell angekommen zu sein. Ganz ehrlich, es war, für mich als langjährigen Bond-Fan, fast zum Schmunzeln, wer sich plötzlich alles angeblich dafür wirklich interessierte und sich eifrigst in das „Bond-Universum“ hineinarbeitete :-). Aber wie gesagt, das muss ein Film auch erst mal bewirken können...
Aber nun zu Alfred Hitchcocks Meisterwerk Psycho.
In den Achtzigern, ich erinnere mich genau, schien der Film oder dessen Einfluss irgendwie noch allgegenwärtig zu sein. Begriffe wie „Norman Bates“ oder „Bates Motel“ und natürlich die legendäre, ikonische Duschszene waren Allgemeingut und Psychos Einfluss auf das Thriller-Genre schien ungebrochen massiv und übermächtig. Hitchcock-Epigonen wie Brian De Palma versuchten mit ihren inszenierten Filmmorden, wie etwa in Dressed to Kill (1980), die Ermordung von Marion Crane, gespielt von Janet Leigh, in der Dusche in Bates Motel irgendwie zu toppen, ohne dabei deren Brillanz und Schockpotential auch nur annähernd zu erreichen. Wenn man so will, wird der Mord in der Dusche immer der „beste Mord der Filmgeschichte“ bleiben!
Auch ich persönlich konnte mich der legendären, geheimnisvollen Aura, die den Film umgab, natürlich wieder mal nicht entziehen, und die Teile, die ich daraus zu sehen bekam, vor allem natürlich Sequenzen aus der Duschszene oder Aufnahmen von Norman Bates gruseligem Wohnhaus, regten meine Fantasie und auch meinen Schrecken an. Aber wieder einmal war es dann auch so, dass ich, als ich den Film dann zum ersten Mal in voller Länge sah, irgendwie enttäuscht war, denn die enorme Erwartungshaltung, die sich über die Jahre in mir aufgebaut hatte, konnte sozusagen „der Film aller Filme“ oder „der Thriller aller Thriller“ nicht erfüllen. Im Gegenteil, andere Hitchcock-Filme, wie Rear Window (1954; Das Fenster zum Hof) oder Vertigo (1958; Vertigo – Aus dem Reich der Toten), bis heute übrigens zwei meiner absoluten Lieblingsfilme, hatten mich mehr beeindruckt und auch weit mehr unterhalten.
Heutzutage allerdings, im Jahr 2017, vor allem nach einer erneuten privaten „DVD-Mitternachtsvorstellung“, ist mein Blick auf dieses kulturelle Phänomen, das Psycho immer zu sein schien, klarer.
Ich glaube, es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass Alfred Hitchcock in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts bis hinein in die frühen Sechzigerjahre einen gewaltigen „Lauf“ hatte, wie wahrscheinlich kein Regisseur vor oder nach ihm (na ja, mit Ausnahme vielleicht von Steven Spielberg :-)). Nacheinander entstanden Allzeit-Klassiker wie Dial M for Murder (1954; Bei Anruf Mord), The Man Who Knew Too Much (1956; Der Mann, der zu viel wusste), Rear Window (1954), To Catch a Thief (1955; Über den Dächern von Nizza), Vertigo (1958), North by Northwest (1959; Der unsichtbare Dritte) oder eben Psycho (1960) und schließlich The Birds (1963; Die Vögel). Eine unglaubliche Liste, alles Filme für die Ewigkeit!
Der Schwarzweißfilm Psycho allerdings stellte, inmitten dieser erlesenen Filmographie, zusätzlich etwas Besonderes dar, denn dabei handelt es sich schließlich auch um den Ur-Psychothriller schlechthin. Wahrscheinlich kommt der ganze Genre-Begriff von Hitchcocks damaliger „Low Budget-Produktion“, aber nur wenige Filme verdienen die Bezeichnung „Psychothriller“ mehr als Psycho selbst, vielleicht nur mehr Roman Polanskis in Großbritannien entstandenes Werk Repulsion (Ekel) aus dem Jahre 1965.
Insgeheim hat der Regie-Gigant Hitchcock aber fast den ersten Film des „New Hollywood“ gedreht, Jahre oder fast ein Jahrzehnt bevor dieser Begriff auch nur aktuell war.
Warum?
Die Antwort liegt meines Erachtens vor allem in der bemerkenswerten schauspielerischen Leistung von Anthony Perkins!
Während die restlichen Schauspieler noch mehr in der üblichen Spielart der Fünfzigerjahre verhaftet scheinen, gibt uns Perkins keinen 08/15-Psychopathen, sondern in der Tat einen „unglaublichen Freak“ und schafft es in jeder Bewegung, mit jeder Faser seines Körpers, mit jedem Augenaufschlag, eine abnorme Persönlichkeit zu porträtieren. Bates‘ verrückte Welt, sein bizarres, abartiges Denken werden durch Perkins virtuose Leistung auf unheimliche Weise greifbar. So einer Person möchte man auf keinen Fall begegnen oder in die Hände fallen!
Ganz und gar nicht „Old Hollywood“-like ist zum Beispiel auch die ungewöhnliche Tatsache, dass die vermeintliche weibliche Hauptfigur, Marion Crane, schon nach etwa 45 Filmminuten unter der Dusche ihr Ende findet. Die Identifikationsfigur, der man vielleicht die Tatsache, dass sie 40.000 $ unterschlagen hat, sogar nachsieht, wird von der Leinwand gnadenlos entfernt. Auch Janet Leighs unvergesslicher Blick, kurz bevor sie stirbt, diese Mischung aus Verzweiflung und Überraschung angesichts der brutalen Messerattacke, ist einzigartig und wirkt für die damalige Zeit ungeheuer modern, wie der Beginn eines neuen inszenatorischen Zeitalters. Wobei das Treffen auf und die Ermordung durch Norman Bates, der ja bekanntlicher- und morbiderweise als seine Mutter verkleidet mordet, sozusagen die finale Höchststrafe für die Figur der Marion Crane ist, die zuvor schon von einigen unangenehmen, ihr schlechtes Gewissen in Bezug auf die Straftat symbolisierenden, Figuren, wie zum Beispiel einem penetranten Streifenpolizisten, verfolgt wird.
Nun, gibt es vielleicht einen Schwachpunkt von Psycho?
Ja, den gibt es!
Der einzig nervige Aspekt von Psycho ist meines Erachtens der abschließende Vortrag des Psychiaters, der Bates untersucht hat. Es ist einem schon klar, dass man dem Publikum Bates‘ Störung, dessen Identifikation mit seiner Mutter, die diesbezüglichen Hintergründe usw., irgendwie noch einmal erklären wollte, nur ist der Vortrag entschieden zu lang geraten! Ich bin überzeugt, auch eine kürzere Abhandlung über Persönlichkeitsstörungen hätte es, selbst im Jahr 1960, getan.
Am Ende ist und bleibt Psycho, auch nach 57 Jahren, aber ein absoluter „landmark film“, dessen unangenehmer Horroratmosphäre man sich nicht oder nur sehr schwer entziehen kann. Wobei gesagt werden muss, dass der Film, der immer wieder auch zum „besten Horrorfilm aller Zeiten“ gekürt wurde, kein Horrorfilm ist, sondern eben tatsächlich ein psychologischer Thriller mit unvergesslichen, auch filmtechnisch natürlich brillant ausgeführten, Schockmomenten.
Andererseits: Gibt es etwas, das noch gruseliger oder horrorartiger ist als jener Raum im Hotel mit den zahlreichen ausgestopften Vögeln?
Ich finde, diese riesige, an der Wand befestige Eule mit den ausgebreiteten Flügeln ist der Stoff, aus dem die wahren Alpträume sind...
(überarbeitete Fassung vom 07.07.2018; Originalfassung: 30.08.2017)