Ich glaube nicht an Gott, ich glaube an Al Pacino.
(aus einem Interview mit Javier Bardem in der Frankfurter Rundschau 2010)
XI
WALTER FINCH (Robin Williams)
Keiner ist so einsam wie der, der nicht schlafen kann.
(Nothing as lonely as not sleeping.)
(aus: Christopher Nolan’s Insomnia; 2002)
RACHEL CLEMENT (Maura Tierney)
Es gibt zwei Arten von Menschen, die in Alaska leben. Die einen, weil sie hier geboren sind, die anderen, weil sie hierherkommen, um vor etwas zu flüchten.
(aus: Insomnia; Tierney, die bekannt wurde als Krankenschwester/Ärztin „Abby Lockhart“ in der TV-Serie Emergency Room [1994-2009], zu deren Cast sie von 1999 bis 2009 gehörte, spielt in Insomnia eine Hotelangestellte, die irgendwie, als einzige, einen Draht zu Detective Dormer zu haben scheint)
WALTER FINCH
Ich bin nicht der, für den Sie mich halten.
WILL DORMER (Al Pacino)
Walter Finch. Schlechter Schriftsteller. Einsamer Freak. Mörder. Nicht?
(aus: Insomnia)
WILL DORMER
Sie sind ungefähr so geheimnisvoll für mich, wie eine verstopfte Toilette für irgendeinen blöden Klempner.
(Al Pacino zu „Walter Finch“ Robin Williams in Insomnia)
ELLIE BURR (Hilary Swank)
Keine Bewegung! Sie haben Detective Eckhart erschossen. Und Finch hat Sie dabei gesehen.
WILL DORMER
Ja.
ELLIE BURR
War das Ihre Absicht?
WILL DORMER
Das weiß ich nicht mehr.
(aus: Insomnia; Ausschnitt aus dem Finale am See)
Abgesehen davon, dass die allerletzte Frage, die sich in Christopher Nolan’s Insomnia, meinem absoluten Lieblings-Christopher Nolan-Film, sowohl der Zuschauer als auch schließlich scheinbar als einzige die junge Polizistin „Ellie Burr“, gespielt von Hilary Swank, stellt, nämlich, ob der Ermittler „Will Dormer“ Al Pacino wirklich, inmitten einer Verfolgungsjagd, seinen Partner „Hap Eckhart“ (gespielt von Martin Donovan) versehentlich oder gar mit Vorsatz erschossen hat, nicht restlos aufgeklärt wird, ist das Thriller-Meisterwerk des damals, also 2002, noch als „Regietalent“ (so steht’s zumindest auf der DVD-Uralt-Ausgabe von Insomnia, die ich besitze :-)) bezeichneten Nolan ein Film, bei dem man den Ausgang irgendwann, so ab der Mitte des Films, dann etwa gleich gut erahnen kann wie bei Max von Sydow’s legendärem Schachspiel mit dem Tod in Ingmar Bergman’s Filmklassiker Das siebente Siegel (1957; schwedischer Titel: Det sjunde inseglet). So wie man letztendlich erahnen kann, dass der Ritter Antonius Block, der eben von Max von Sydow gespielt wird (einem Schauspieler, für den die Bezeichnung „Filmlegende“ wohl mittlerweile noch untertrieben wäre :-)), dem Tod (gespielt von Bengt Ekerot) in diesem Schachspiel natürlich unterlegen sein wird, denn: Wie bitte soll ein Schachspiel mit dem Tod schon groß anders ausgehen? :-), so kann man auch erahnen, dass am Ende von Insomnia weder Al Pacino noch Robin Williams, der den Krimi-Autor und Mädchenmörder „Walter Finch“ spielt, mit dem Leben davonkommen.
Nun, einige Jahre nachdem Nolan mit Memento (2000) als Filmemacher das erste Mal so richtig auf sich aufmerksam gemacht hatte, einem komplexen „neo-noir psychological thriller film“ mit Guy Pearce (bekannt aus Curtis Hanson’s 1997er-Thriller-Meisterstück L.A. Confidential) und Carrie-Anne Moss (bekannt aus der Matrix-Trilogie der Brüder Andy & Larry Wachowski, die ja mittlerweile, nach dem Transgender-Coming out, zu Lilly & Lana Wachowski geworden sind), der über eine äußerst „innovativ-verwirrende“ Erzählstruktur verfügt (zwei Handlungsstränge – einer in S/W, einer in Farbe; der in S/W läuft in der korrekten Reihenfolge der Szenen ab, der in Farbe in chronologisch entgegengesetzter Reihenfolge der Szenen – klingt kompliziert und ist es auch :-)), und einige Jahre vor Batman Begins (2005), dem Auftakt zur Dark Knight-Trilogie, waren die beiden US-Schauspiel-Ikonen Al Pacino und Robin Williams unter Nolan’s Regie in einem der besten Thriller der frühen 2000er-Jahre zu sehen, den ich persönlich bis heute, unterm Strich, jedem anderen Nolan-Film vorziehe, ganz einfach auch aus dem Grund, weil Insomnia, im Vergleich zu anderen Werken des Regisseurs, irgendwie herrlich „unspektakulär“ und „geradlinig“ daherkommt. Insomnia ist schlicht und einfach ein, naja, Thriller, ein „Kriminalfilm“, der in Alaska spielt :-).
Darüber hinaus steht Nolan’s Insomnia am Ende einer sehr guten Phase in Pacino’s Karriere. Und was den wunderbaren und unvergessenen Robin Williams (1951-2014) betrifft, so muss man sagen, dass Insomnia, neben Mark Romanek’s Psycho-Thriller One Hour Photo aus dem Jahr 2002, in dem Williams einen psychopathischen Foto-Entwickler spielt, der seine Kunden stalkt, der beste ausschließlich ernste Film ist, in dem Williams je mitgespielt hat (Barry Levinson’s Ein anarchistischer Radio-Moderator in Vietnam-Film Good Morning, Vietnam aus 1987 und Terry Gilliam’s formidable „Grals-Suche“ The Fisher King/dt.: König der Fischer aus 1991 haben dann doch zu viele komödiantische Elemente und Peter Weir’s „Schul-Film“ Dead Poets Society/dt.: Der Club der toten Dichter aus 1989 mochte ich nie bzw. mag ich bis heute nicht wirklich :-)).
XII
Man müsste jeden fragen, der den beiden ersten Godfather-Filmen von Francis Ford Coppola, The Godfather (1972; Der Pate) und The Godfather Part II (1974; Der Pate - Teil II), den Status als „Jahrhundertfilme“ aberkennen würde, ob er noch ganz bei Trost ist :-). Natürlich „überschattet“ Pacino’s Performance als Mafiapaten-Sohn „Michael Corleone“ (die Rolle, die Pacino weltberühmt gemacht hat) ein wenig dessen Filmografie der 70er, aber mir persönlich gefällt Pacino zum Beispiel in Sidney Lumet’s Polizeifilm Serpico (1973) oder in dem Ein missglückter Banküberfall-Film Dog Day Afternoon (1975; Hundstage), der wiederum von Sidney Lumet inszeniert wurde und auch zu den absoluten Meisterwerken des „New Hollywood“ gehört, irgendwie besser.
In den 80ern hingegen lief jetzt nicht unbedingt viel im Zusammenhang mit Pacino, denn William Friedkin’s Thriller Cruising (1980), in dem Pacino als New Yorker Undercover-Cop fieberhaft einen Serienkiller im Schwulenmilieu sucht, ist zwar spektakulär, aber sicherlich kein „Must-See-Movie“. Und von dem Revolutionsfilm Revolution (1985; Regie: Hugh Hudson), der Revolutionsfilm-Gurke schlechthin, in dem Pacino mehr oder weniger als „Rambo des 18. Jahrhunderts“ (so bezeichnete jedenfalls der US-Kritiker Vincent Canby von der New York Times Pacino’s „Tom Dobb“-Rolle) agiert, rede ich besser erst gar nicht :-).
Überraschenderweise zu einem Megahit und regelrechten „kulturellen Phänomen“ entwickelte sich hingegen Brian De Palma’s legendärer Gangsterfilm Scarface (1983; Drehbuch: Oliver Stone), in dem Pacino den kubanischen Einwanderer und späteren Gangsterboss Antonio „Tony“ Montana spielt, der zum „Big Player“ in der Welt des Kokain-Handelns mutiert, bevor er dann, in einer legendären Schlussszene, in einem wilden Kugelhagel den Tod findet. Die Figur des „Tony Montana“ ist längst ein Teil der Populärkultur geworden und geistert zum Beispiel auf T-Shirts oder, als „Referenz-Objekt“, in Rap-Texten herum. Ich persönlich mochte De Palma’s Werk, das eine sehr freie Neuinterpretation des Howard Hawks-Klassikers Scarface aus 1932 ist, nie wirklich, vielleicht deshalb, weil sich darin Oliver Stone’s „Holzhammer-Tendenzen“, Stone hat ja das Drehbuch geschrieben, mit De Palma’s „visueller Langatmigkeit“ vermischen (den unterschätzten Gangsterfilm Carlito’s Way aus 1993, die zweite De Palma-/Pacino-Zusammenarbeit, finde ich da zum Beispiel weit gelungener).
Mein Lieblings-Al Pacino-Film ist aber dennoch ein Film aus den 80er-Jahren, nämlich Harold Becker‘s großartiger 1989er Neo-Noir Thriller Sea of Love (Sea of Love - Melodie des Todes). Darin kehrte Pacino, der sich nach dem Flop von Revolution eine vierjährige „Film-Auszeit“ genommen hatte, triumphal auf die Leinwand zurück und bildet zusammen mit Ellen Barkin eines der besten Leinwandpaare der 80er-Jahre! Oft wird ja davon geredet, dass die „Chemie“ zwischen zwei Leuten stimme usw. – nun, wenn jemals die „Leinwand-Chemie“ zwischen zwei Leuten gestimmt hat, dann zwischen „Detective Frank Keller“ Al Pacino und „Helen Cruger“ Ellen Barkin. Die Geschichte von Sea of Love ist letztendlich zweitrangig: Der New Yorker Detective Frank Keller muss eine Reihe von mysteriösen Morden an Männern aufklären, die allesamt nackt, mit dem Gesicht nach unten und mit zwei Kugeln im Kopf in ihren Betten aufgefunden worden sind, während sich der Song „Sea of Love“ von Phil Phillips & The Twilights (erschienen 1959) noch immer auf dem Plattenspieler gedreht hat. Im Lauf der Ermittlungen, die ins „Kontaktanzeigen-Dating-Milieu“ führen, trifft Pacino auf Barkin, wobei sich letztendlich herausstellt, dass nicht die von Barkin gespielte Helen Cruger, sondern deren pathologisch eifersüchtiger Ex-Mann (gespielt von Michael Rooker) ihre aus diversen Dates hervorgegangenen Lover nach dem Geschlechtsverkehr mit ihr gekillt hat (und das natürlich erst, als sie die jeweiligen Wohnungen schon wieder verlassen hatte). Aber wie gesagt: Das, die Geschichte, ist nicht wichtig, denn wichtig ist nur, dass Pacino und Barkin es in Sea of Love wunderbar schaffen, erotische Anziehung glaubhaft rüberzubringen, so glaubhaft, wie das in nur wenigen Filmen der Fall ist, so, wie vielleicht nur in einem Film, der seit langem zum „erweiterten Kreis“ meiner absoluten Lieblingsfilme gehört, nämlich Jim McBride’s Kriminalfilm The Big Easy (1987; The Big Easy – Der große Leichtsinn), in dem Dennis Quaid und, tja, wiederum Ellen Barkin die Leinwand förmlich zum Knistern bringen und sich somit einen All-Time-Spitzenplatz in der Kategorie „Beste Leinwandpaare der 80er-Jahre“ sichern. Wer unterhaltsames und intelligentes „Kino für Erwachsene“ mit sehr gut gespielten Erotik-Szenen mag, der soll sich, nein – nicht 9 ½ Weeks (9 ½ Wochen) von Andrian Lyne aus 1986 mit Mickey Rourke und Kim Basinger ansehen :-), sondern eben Sea of Love mit Pacino und Barkin und The Big Easy mit Quaid und Barkin.
In den 90ern hatte Pacino dann, fast wie in den 70ern, wieder so etwas wie ein „goldenes Jahrzehnt“, denn es fällt beinahe ein wenig schwer, lediglich eine strenge Auswahl der allerbesten Pacino-Filme der 90er zu treffen. Sicher ist nur, dass ausgerechnet der Film, für den Pacino endlich den Hauptrollen-Oscar gewonnen hat, nämlich Scent of a Woman (1992; Der Duft der Frauen) von Beverly Hills Cop (1984)-Regisseur Martin Brest, ganz sicher nicht zu den besten Pacino-Filmen gehört – für mich jedenfalls, denn ich konnte mit diesem in Pathos triefenden Remake des italienischen Films Der Duft der Frauen (1974; italienischer Originaltitel: Profumo di donna; Regie: Dino Risi) mit Vittorio Gassman noch nie sonderlich viel anfangen :-).
Ein Meisterwerk ist und bleibt hingegen Michael Mann’s grandioser und epischer Räuber und Gendarm-Thriller Heat (1995), der so etwas wie ein „Jahrhundertereignis“ für den Filmfan bietet :-), nämlich ein unmittelbares (Anmerkung: In The Godfather Part II spielte De Niro seinerzeit den jungen Vito Corleone, also den Vater von Michael, der nur in längeren Rückblenden vorkommt; eine gemeinsame Szene zwischen De Niro und Pacino gab es damals nicht) Aufeinandertreffen von „Gendarm“ Al Pacino und „Räuber“ Robert De Niro. Das ist, rein qualitativ – nicht, was die Rollenverteilung in Gut und Böse betrifft, ein wenig so, als ob sich Batman und Superman treffen würden :-) (was sie ja, wie ich bereits in Teil 1 meines Artikels geschrieben habe, in Zack Snyder’s etwas „seelenlos“ geratenen Film Batman v Superman: Dawn of Justice aus 2016 auch machen :-)).
Ein unbedingt sehenswertes Pacino-Werk aus den 90ern ist dann auch noch der Mystery-Thriller The Devil’s Advocate (Im Auftrag des Teufels) aus 1997 von An Officer and a Gentleman (1982; Ein Offizier und Gentleman)-Regisseur Taylor Hackford, in dem Pacino schlicht und einfach den Teufel selbst spielt, der sich aber das Antlitz des erfolgreichen New Yorker Rechtsanwaltskanzleibesitzers „John Milton“ gibt. Dieser macht dem jungen Anwalt „Kevin Lomax“, gespielt von Keanu Reeves, ein äußerst lukratives Angebot, damit Lomax für ihn zu arbeiten beginnt. Dieser „Pakt mit dem Teufel“, den Reeves da zunächst unwissentlich eingeht, kostet in der Folge aber auch seiner Film-Ehefrau Charlize Theron die geistige Gesundheit und schließlich ihr Leben. Ein toller sowie witziger Moment ganz am Ende des Films ist dann, als Pacino direkt in die Kamera spricht und, in Bezug auf Reeves, meint: „Eitelkeit, eindeutig meine Lieblingssünde“. Dann lächelt er und der Abspann beginnt - zu den Klängen von Paint It Black (1966) von den Rolling Stones! I see a red door and I want it painted black... :-)
XIII
WILL DORMER
Die Leute verraten sich bei geringfügigen Delikten genau auf dieselbe Art wie bei Mordfällen. So ist die menschliche Natur. Wollen Sie sich das nicht aufschreiben?
(lächelt)
(Al Pacino zu „Detective Ellie Burr“ Hilary Swank in Insomnia)
Gut, Sie haben schon Recht! :-), das Aufeinandertreffen von Al Pacino und Robin Williams in Christopher Nolan’s filmischem Meisterstück Insomnia, im Übrigen ein Remake des norwegischen Films Insomnia (1997; Todesschlaf) von Erik Skjoldbjaerg, ist im Grunde nicht weniger spektakulär als das von De Niro und Pacino 1995 in Heat!
Aber: Dass der ganze Film zu so einem „Glücksfall des Thriller-Genres“ geworden ist, ist auch der grandiosen Regieleistung von Christopher Nolan und auch zweifellos wiederum der eindrucksvollen Kameraarbeit von Nolan’s Stammkameramann Wally Pfister zu verdanken. Allein die Eingangssequenz des Films, in der das Flugzeug, das Pacino und Martin Donovan, der eben jenen „Detective Hap Eckhart“ spielt, den Pacino absichtlich oder unabsichtlich während einer Verfolgungsjagd im ersten Filmdrittel erschießt, in das Städtchen „Nightmute“ in Alaska bringt (der, wie es einmal im Film heißt, „Welthauptstadt des Heilbutt-Angelns“ :-)), über eine Art "Miniatur-Gebirgskette" aus Eis fliegt, ist visuell atemberaubend. Denn: Man hat tatsächlich den Eindruck, als würde das Flugzeug über eine Art „Eisplaneten“ fliegen, der voller kleinerer „Eisgebirgsketten“ ist. Würde man nicht annehmen, dass Alaska anscheinend solche unglaublichen Landschaften zu bieten hat, man würde glauben, man befände sich auf einem dieser eindrucksvoll ausgearbeiteten Planeten in Nolan’s Science Fiction-Film Interstellar von 2014!
Der Grund für die Alaska-Reise der Hauptfigur Dormer ist der Mord an einer 17-jährigen Schülerin namens Kay. Diese wurde, wie Dormer selbst eigentlich relativ schnell herausfindet, nur kann er eben bald aus gewissen Gründen sein Wissen nicht mit anderen teilen, von dem Schriftsteller Walter Finch, der von Robin Williams wunderbar „komplexbeladen“ dargestellt wird, ermordet – und das, wie Finch den ganzen Film über behauptet, aus einer Art „Affekt“ heraus, weil sich die Schülerin, als dessen „Mentor“ er sich einmal gegenüber Dormer bezeichnet, über ihn lustig gemacht hat bzw. über seine Annäherungsversuche gelacht hat.
Die ganze Dienstreise nach Alaska stellt für „Detective Will Dormer“ Al Pacino aber auch eine willkommene Flucht dar, denn in Los Angeles ist die Dienstaufsicht hinter ihm her, da sie ihm unterstellt, Beweismittel gefälscht und damit einen Sexualstraftäter und Kindermörder nicht ganz legal hinter Gitter gebracht zu haben. Dormer sieht mit dieser Verfolgung durch die Dienstaufsicht sein „Lebenswerk“ gefährdet, da eine Verurteilung seinerseits auch bedeuten würde, dass viele der von ihm überführten Straftäter im Nachhinein eventuell wieder freikommen würden. Ein Problem im Zusammenhang mit der Dienstaufsicht stellt aber auch sein Partner Hap Eckhart dar, der mit der Dienstaufsicht, wie er Dormer auch mitteilt, einen „Deal“ machen will, damit er selbst aus dem Fokus derselben verschwindet. Während eines Tischgesprächs in dem Restaurant des Hotels, in das die beiden in Nightmute einchecken, treten erste Spannungen zwischen Dormer und Eckhart auf und Dormer spricht sofort „Klartext“:
WILL DORMER
Mein Leben. Du kannst...du kannst es zerstören. Einfach so. Wozu? Wozu? Damit irgendein Blödarsch von der Dienstaufsicht schneller Polizeichef wird? Oder, damit er Golf mit dem Bürgermeister spielen kann? Oder was weiß ich für’n Scheiß!
(aus: Insomnia)
Hap Eckhart wird, wie bereits mehrmals erwähnt, eben von Martin Donovan gespielt, einem Schauspieler, der heutzutage irgendwie ein wenig von der Bildfläche verschwunden ist, der in den 90ern aber speziell in den wunderbaren Filmen des US-Independent-Film-Regisseurs Hal Hartley einige starke Auftritte hatte – so zum Beispiel in Simple Men (1992) oder in Amateur (1994). Vor allem Hartley’s originell-witziger Thriller Amateur hatte es mir in den 90ern ein wenig angetan, denn das Zusammenspiel von Donovan und seiner Filmpartnerin Isabelle Huppert, die darin eine Frau spielt, die aus einem Kloster ausgetreten ist und sich nun dem Verfassen pornografischer Literatur widmet :-), ist absolut sehenswert. Im Zusammenhang mit Donovan drängt sich jetzt aber wahrlich auch eine andere Frage auf: Wo zum Teufel ist Hal Hartley eigentlich hingekommen? Denn: Independent-Filmer wie er werden in der Gegenwart wirklich schmerzlich vermisst!
Die zentrale Szene von Insomnia, die sozusagen den Dreh- und Angelpunkt des Films darstellt und in der „Will Dormer“ Al Pacino seine „Ur-Sünde“ begeht, mit der man nicht so einfach davonkommt, ist aber dann die eindrucksvoll inszenierte „Nebel-Szene“, in der Al Pacino, während allesamt „Walter Finch“ Robin Williams verfolgen, der zum Mord-Tatort zurückgekehrt ist, Martin Donovan, mit einer Zweitwaffe, erschießt.
Absicht? Vorsatz? Man weiß es nicht – und Pacino weiß es auch nicht, den ganzen Film über nicht. Der sterbende Eckhart hingegen unterstellt ihm sofort das Naheliegendste:
HAP ECKHART
Du wolltest mich erschießen. Verdammt, du hast...
WILL DORMER
[…]
Ich konnte dich nicht sehen in dem Nebel. Ich konnte dich...ich konnte dich nicht sehen.
(aus: Insomnia)
Kein US-Filmemacher, auch nicht Nolan, kann eine Cop-Figur, die, wie gesagt, die „Cop-Ur-Sünde“ schlechthin begeht, nämlich einen anderen Cop zu erschießen, davonkommen lassen. Das geht allein schon „Hollywood-technisch“ schlecht, wäre aber auch ganz allgemein „Dramaturgie-technisch“ fragwürdig und würde auch den Zuseher mit einem seltsamen Gefühl zurücklassen. Der einzige Fall, wo anders gehandelt wurde und wo die Hauptfigur, der Cop „Vic Mackey“ (eindrucksvoll gespielt von Michael Chiklis), aufgrund seiner Amoralität und letztendlich „Geschicktheit“, mit dieser „Ur-Sünde“ des „Cop killt Cop-Mordes“ davonkommt, ist die unbändig radikale Fernsehserie The Shield (2002-2008; The Shield – Gesetz der Gewalt), die im Stadtteil Farmington in Los Angeles spielt und die man getrost als eines der größten, aber auch kompromisslosesten Meisterwerke der Fernsehgeschichte bezeichnen kann. Ich selbst kenne jedenfalls keine andere Serie, die, wie The Shield, sieben Staffeln lang keinerlei Qualitätsschwankungen oder Qualitätsverlust erleidet! Aber, natürlich, hat diese Serie im deutschsprachigen TV wieder mal niemanden interessiert :-). Glauben Sie mir: Wenn Sie Cop-Serien mögen und es Ihnen nichts ausmacht, dass es darin härter zur Sache geht, denn das von Drogen- und Bandenkriminalität dominierte Farmington ist nun mal nicht Beverly Hills :-), dann haben Sie etwas verpasst, wenn Sie The Shield nicht kennen!
XIV
Nun ja, „Will Dormer“ Al Pacino kann in Insomnia, wie der Titel schon andeutet, nicht schlafen, und das die ganzen Nächte über, die er in Nightmute/Alaska verbringen muss, die gar keine Nächte sind, weil es dort, jahreszeitlich bedingt, keinen wirklichen Lichtwechsel zwischen Tag und Nacht gibt. Sein Gewissen plagt ihn, noch stärker natürlich nach dem „Mord“ an Eckhart oder eben dem „tragischen Unfall“ mit Eckhart, der im Übrigen von „Elli Burr“ Hilary Swank untersucht wird, die zunächst ein „ergebener Fan“ der „Legende“ Dormer ist, dann aber bald Zweifel an seiner Schilderung der Ereignisse um Eckhart’s Erschießung bekommt.
Was sich für Dormer vielleicht ursprünglich wie ein Neubeginn angefühlt hat, ein Fall weit weg von der Dienstaufsicht sowie die Beseitigung des „Problems Eckhart“, erweist sich letztendlich, wie das halt oft so ist, nur als der Anfang vom (eigenen) Ende. Die Szenen, in denen Pacino einsam, nur allein mit seinen Dämonen, in seinem Hotelzimmer liegt, gegen seine permanente Schlaflosigkeit (und gegen seine Erinnerungen) kämpft, versucht, die Fenster des Hotelzimmers zu verdunkeln und sich so gegen das „ewige Tageslicht“ zu schützen, sind die melancholischen Höhepunkte des Films. Ich würde überhaupt so weit gehen, zu sagen: So gut wie Christopher Nolan in Insomnia hat Pacino selten ein Regisseur in Szene gesetzt, außer vielleicht Sidney Lumet in den 70ern, in Serpico und Dog Day Afternoon.
Heimgesucht wird Dormer aber, neben der Schlaflosigkeit, in die sich immer wieder auch Schlafentzugs-bedingte Halluzinationen mischen (die vom Duo Nolan/Wally Pfister Kamera-technisch hervorragend umgesetzt sind), auch noch von einer zusätzlichen Plage, nämlich von dem Mörder Walter Finch, der den tödlichen Vorfall mit Eckhart beobachtet hat und Dormer mit seinem Wissen darüber erpressen will (was letztendlich darauf hinauslaufen soll, dass „Randy Stetz“, der gewalttätige Freund des von Finch ermordeten Mädchens, der von Jonathan Jackson gespielt wird, als Täter überführt werden soll – was dann letztendlich auch im letzten Film-Drittel geschieht).
Die nächtlichen Anrufe von „Walter Finch“ Robin Williams bei „Will Dormer“ Al Pacino im Hotelzimmer sind weitere Highlights des Films. Hier ein Ausschnitt aus einem dieser Anrufe:
WALTER FINCH (nur Stimme über Telefon)
Wie halten Sie sich? Nicht so einfach, zu arbeiten, wenn man drei Nächte nicht geschlafen hat. Man kann sich nur schwer konzentrieren. Haben Sie schon Halluzinationen? Kleine Blitze und so? Irrlichter? Sehen Sie Ihren Partner?
(aus: Insomnia)
Später treffen sich Pacino und Williams dann auf einer Fähre und es kommt zu einer denkwürdigen Unterhaltung, die, was den „filmhistorischen Wert“ betrifft, fast an das „Jahrhundertereignis“ der Kaffeehaus-Unterhaltung von Pacino und De Niro in Michael Mann’s Heat anschließen kann. Finch spielt, unter anderem, in dieser Unterhaltung gezielt mit Dormer’s eigenen „Unklarheiten“ in Bezug auf die Erschießung Eckhart’s:
WALTER FINCH
Was war das für ein Gefühl, als sie sahen, dass es Hap war? Schuld? Erleichterung? Auf einmal frei von allen Sorgen. Ist Ihnen davor nie sowas in den Sinn gekommen? Ich meine, wie es wohl sei, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre? Und das bedeutet nicht, dass Sie’s mit Absicht getan haben.
(aus: Insomnia)
Nun, Dormer spielt zwar einige Zeit lang Finch’s Spiel mit, versucht aber letztendlich so etwas wie seine völlig im Zerfall begriffene „Cop-Seele“ zu retten und will Finch am Ende von Insomnia zur Strecke bringen. Im grandiosen Finale kommen, wie erwartet oder abzusehen, aber beide, Finch und Dormer, ums Leben – sie erschießen sich gegenseitig. Wobei: Der tote „Finch“ Robin Williams unter der Wasseroberfläche eines eiskalten Sees liegend, das ist ein denkwürdiger Anblick – und eines der besten Bilder, eine der besten Kameraaufnahmen des gesamten Films!
Dormer erhält kurz vor seinem Tod noch eine Art „Freispruch“ von „Ellie Burr“ Hilary Swank, die beim Finale ebenfalls mit vor Ort ist. Die zweifache Oscar- und Golden Globe-Preisträgerin Swank, sie erhielt die Preise jeweils für ihre Hauptrollen in den Dramen Boys Don’t Cry (1999; Regie: Kimberly Peirce) und Million Dollar Baby (2004; Regie: Clint Eastwood), bildet in Insomnia, als junge Polizistin Ellie Burr, so etwas wie „die letzte aufrechte Bastion des Widerstandes“ gegen den moralischen Irrsinn der beiden Hauptfiguren. Sie kauft Dormer seine Geschichte letztendlich nicht ab und findet am Tatort im Laufe des Films sogar die Patronenhülse, die von der Kugel stammt, die Dormer aus seiner Zweitwaffe auf Eckhart abgefeuert hat. Aber auch Finch, vom dem man schließlich eines seiner Bücher im Rucksack des Opfers Kay gefunden hat, kommt ihr verdächtig vor und in der „Pseudoverhör-Szene“ in der Mitte des Films, in der Pacino und Williams Theater spielen und so tun, als würden sie sich nicht kennen, ahnt sie schon, dass etwas mit den beiden nicht stimmt bzw., dass sich die beiden vielleicht doch (schon) kennen. Angesichts des sterbenden Dormers kommen ihr aber dann doch folgende Worte über die Lippen, die sich auf die „Eckhart-Geschichte“ beziehen:
ELLIE BURR
Sie wollten das nicht tun. Ich weiß es. Auch wenn Sie es nicht wissen.
(aus: Insomnia)
Burr will letztendlich sogar noch die Patronenhülse wegwerfen, die Dormer überführen würde, dieser aber bittet sie, dies nicht zu tun, denn Burr soll nicht den Weg beschreiten, den er gegangen ist.
„Will Dormer“ Al Pacino findet dann in Alaska, an einem Ort, an dem er den ganzen Film über nicht schlafen konnte, schließlich den „ewigen Schlaf“. Denn, wie bereits gesagt: Für Pacino’s Alaska-Trip in Christopher Nolan’s Meisterwerk Insomnia gilt, was letztendlich für viele vermeintliche „Comebacks“ auch gilt: Was sich ursprünglich vielleicht wie ein Neubeginn angefühlt hat, war nur der Anfang vom Ende.
(ENDE von TEIL 4 des Artikels – DRITTER HAUPTTEIL; Fassung vom 11.10.2018)