Ausschnitt aus "NO PULP IN THE FICTION" (Buch; 2020): Kapitel "RESERVOIR DOGS - WILDE HUNDE" (Teil 2[von 3])

 

 

I don’t take the violence very seriously. I find violence very funny, and especially in the stories, that I’ve been telling recently

&

I’m not trying to preach any kind of morals or get any kind of message across, but for all the wildness that happens in my movies, I think, that they usually lead to a moral conclusion

 

(Quentin Tarantino zu dem Thema „Gewaltdarstellung & Amoralität in seinen Filmen“ – aus einem Interview mit Graham Fuller vom Mai 1993, abgedruckt dann in dem 1994 von John Boorman & Walter Donohue herausgegebenen Buch „Projections 3: Film-Makers on Film-Making“; Anmerkung: Wenn Tarantino von „unlängst erzählten Geschichten“ spricht, dann bezieht er sich, neben Reservoir Dogs, vor allem auf das damals bereits fertiggestellte Drehbuch zu seiner zweiten Regiearbeit Pulp Fiction)

 

 

It never looks like a script – it always looks like Richard Ramirez’s diary, the diary of a madman

 

(Quentin Tarantino - wiederum in dem Projections 3-Interview - über die handgeschriebenen „Erstfassungen“ seiner Drehbücher; Richard Ramirez - „The Night Stalker“: einer der bekanntesten US-Serienmörder)

  

 

Das Drehbuch zu Reservoir Dogs (Anmerkung: Der großartige Titel soll, der von Tarantino selbst so kommunizierten „legend“ nach, davon inspiriert worden sein, dass ein „customer“ bei den „Video Archives“ in Manhattan Beach [Kalifornien], wo Tarantino Anfang der 90er gearbeitet hat, sich nach Louis Malle’s 1987er-Meisterwerk „Au revoir, les enfants“ [dt. Titel: Auf Wiedersehen, Kinder] erkundigt und den Filmtitel irgendwie in Richtung „Reservoir“ „mispronounced“ hat) ist das erste aus der Reihe jener „tough, cynical & exuberatly[überschwänglich] amoral genre-bending scripts“ (Copyright: Graham Fuller), die verfilmt wurden und die auch von Anfang an ein Markenzeichen des Autors und Regisseurs waren.

Alles, was Tarantino’s filmische Welt ausmacht, der „rapidly talking flow“ der Protagonisten, die „verwickelt“ strukturierten Plots, die „explosions of violence“, die „Pop-Kultur-Referenzen“, das alles ist in Reservoir Dogs - Wilde Hunde, der für gewisse Leute bereits ohnehin „der perfekte Tarantino-Film“ war, vorhanden. Und die ersten sieben Minuten des Films, also die „pre-heist“-Debatte, in der Tarantino selbst, als „Mr. Brown“, sich zunächst in einer Art „anti-intellektueller Madonna-Demystifikation“ versucht und die dann in einem „Tarifstreit“ über Trinkgelder in der Gastronomie endet, sind „Tarantino pur“ und, wenn man so will, die ultimative Einführung in dessen „Männerwelt“.

 

Geschrieben hat Tarantino Reservoir Dogs - Wilde Hunde im Oktober 1990 („QT on QT“: „I am a pretty good writer – but I always think of myself as a director“). Ein zentraler Punkt beim Verfassen des Drehbuchs, neben dem Augenmerk auf die Dialoge (QT: „All the right people endet up saying all the right things“), war das „non-linear storytelling“, also die auffällige „Antworten-zuerst, Fragen-später“-Struktur des Films.

Reservoir Dogs - Wilde Hunde zeigt die Vorkommnisse vor und nach dem schiefgegangenen Überfall, aber der „heist“ selbst bleibt, ähnlich wie übrigens in dem im selben Jahr erschienenen Meisterwerk Glengarry Glen Ross (1992; Regie: James Foley; literarische Vorlage: David Mamet), in dem der erwähnte Überfall „never shown on camera“ ist, „an event we didn’t see“ (Anmerkung: Ursprünglich hatte die Entscheidung, den Raubüberfall nicht zu zeigen, durchaus „budgetäre Gründe“, doch Tarantino hat später betont, dass sein Film eigentlich „about other things“ ist und diese Tatsache somit nicht wirklich störe). Während die Szenen im Lagerhaus (als Drehort diente übrigens eine ehemalige Leichenhalle, deren oberstes Stockwerk dann für die dementsprechenden Szenen auch noch zu „Mr. Orange’s Apartment“ umfunktioniert wurde) gleichsam in Echtzeit ablaufen, also einer „real-time-clock“ folgen, erfährt man in „Zwischenkapiteln“ mehr über „Mr. White“, „Mr. Blonde“ und schließlich „Mr. Orange“.

Die „Zwischenkapitel“-Struktur von Reservoir Dogs - Wilde Hunde war sozusagen ein erster Ausdruck von Tarantino‘s Leidenschaft, in seinen filmischen Werken mit „novel-structures“, mit der Struktur von Romanen und somit von Literatur, zu spielen (QT: „Reservoir Dogs ist der Schundroman, den ich immer schreiben wollte“ / Ich schrieb Reservoir Dogs mit der Intension, dass es sich anfühlen sollte, als lese man ein Buch – mit Kapitelüberschriften für die verschiedenen Szenen“). Während später bei Pulp Fiction gleichsam die Hauptfiguren einer Episode plötzlich in einer anderen Episode nur als Nebenfiguren auftreten (ein Beispiel: „Vincent Vega & Mia Wallace“ John Travolta und Uma Thurman spielen im Abschnitt „VINCENT VEGA AND MARSELLUS WALLACE’S WIFE“ die Hauptrollen, im Abschnitt „THE GOLD WATCH“, in dem es primär um „Butch Coolidge“ Bruce Willis geht, kommen beide jedoch nur kurz vor), also etwas tun, was in der Form sonst nur Romanautoren so einfach mit ihren Figuren machen können, heißt das im Falle von Reservoir Dogs - Wilde Hunde, dass jeder „chapter about a guy“, wie in einem Roman, ein Mehr an Informationen bringt, bevor man dann sozusagen „back in main action again“ ist.

 

Von Anfang an war Tarantino, trotz all der Insider-Jokes und Pop-Kultur-Bezüge, durchwegs seine eigene Schöpfung, soll heißen: Ein Leinwandkünstler ganz eigener Couleur!

Dennoch gab es, und das schon seit Reservoir Dogs - Wilde Hunde, immer wieder „Plagiat vs. Hommage“-Diskussionen im Zusammenhang mit seinen Filmen.

Als Werk, von dem Tarantino sich auf jeden Fall bei seinem Debüt hat beeinflussen lassen, muss Stanley Kubrick’s fantastischer „Heist-Movie“ The Killing - Die Rechnung ging nicht auf (1956; The Killing) gelten, der in Wahrheit eines der großen Meisterwerke der 50er-Jahre ist und selbst in Kubrick’s wahrlich eindrucksvoller Filmographie -aus meiner Sicht jedenfalls- ein wirkliches Highlight darstellt. In „The Killing“, so eben der Originaltitel, arbeitet Kubrick nicht nur mit non-linearen Erzählweisen, sondern schildert das Geschehen, ähnlich wie das in Akira Kurosawa’s legendärem Rashomon – Das Lustwäldchen (1950; Rashōmon) der Fall ist, auch aus mehreren Blickwinkeln.

Fest steht, dass Reservoir Dogs - Wilde Hunde immer wieder als eine Art „update on Stanley Kubrick’s ´The Killing´“ betrachtet wurde - Tarantino selbst hat natürlich nie von einem „Remake“ oder dergleichen gesprochen, seinen Film dafür aber durchaus als „my ,Killing‘“ bezeichnet, also als „his take on that kind of heist-movie“ (zur Erklärung: Heist-Movie: Ein zur Gruppe der Thriller gehörendes Filmgenre, in dessen Mittelpunkt die Planung, Vorbereitung und Durchführung von Raubüberfällen steht – das Besondere ist auch, dass die Handlung von Heist-Movies aus dem Blickwinkel der Räuber erzählt wird).

Weitere Filme, die den „a planned heist goes terribly wrong“-Plot von Reservoir Dogs - Wilde Hunde angeregt haben, sind definitiv aber auch der „American film noir and crime film“ Der vierte Mann (1952; Kansas City Confidential; Regie: Phil Karlson) und Joseph H. Lewis‘ Gangster-Film Geheimring 99 (1955; The Big Combo), in dem es sogar einen Gangsterboss namens „Mr. Brown“ gibt, also eine Figur, die genau so heißt wie die von Tarantino selbst gespielte Nebenfigur in Reservoir Dogs - Wilde Hunde.

Die Tatsache, dass im Tarantino-Debüt gleichsam „characters named after colors“ vorkommen, wurde als „Verbeugung“ vor dem 70er-Jahre-Thriller-Klassiker Stoppt die Todesfahrt der U-Bahn 1-2-3 (1974; The Taking of Pelham One Two Three; Regie: Joseph Sargent) angesehen, in dem die von Robert Shaw angeführten U-Bahn-Entführer eben allesamt Decknamen wie „Mr. Blue“ (Shaw), „Mr. Green“ (Martin Balsam), „Mr. Grey“ (Hector Elizondo) und wiederum „Mr. Brown“ (Earl Hindman) tragen.

Wenn jemand allerdings Tarantino ernsthaft „Plagiatsvorwürfe“ machen könnte, dann nur der chinesische Regisseur Ringo Lam (inszenierte auch die drei Jean-Claude Van Damme-B-Film-Action-Klassiker Maximum Risk, Replicant & In Hell, veröffentlicht 1996, 2001 & 2003), denn Reservoir Dogs - Wilde Hunde weist wahrlich „key elements similar to“ Lam’s Hongkong-Klassiker City on Fire (1987; Alternativtitel: Cover Hard 2) mit Chow Yun-Fat und Danny Lee auf, in dessen Story es ebenfalls um einen Undercover-Cop geht, der ein Verbrechersyndikat infiltriert, das auf Juwelenraub spezialisiert ist. Am Ende von City on Fire, der im Grunde ein nicht untypischer ultraharter „Hongkong-Actioner“ der 80er-Jahre ist, kommt es sogar zu einem ähnlichen „Mexican Standoff“ in einer Lagerhalle wie in dem Tarantino-Werk, denn der Verbrecher „Fu“ (gespielt von Danny Lee – ist praktisch das Vorbild für „Mr. White“ Harvey Keitel) stellt sich schützend vor den durch einen Bauchschuss schwer verletzten und von dem Banden-Boss, der über den missglückten Coup wütend ist, als „Verräter“ bezeichneten Undercover-Cop „Ko Chow“ (Chow Yun-Fat), mit dem er sich mittlerweile angefreundet hat - im Rahmen des Showdowns stirbt allerdings, nachdem er, gleichsam in „Mr. Orange“-Manier, „Fu“ sein Undercover-Cop-Dasein gestanden hat, nur „Ko Chow“ an seinen Verletzungen, während „Fu“ aber von der Polizei abgeführt wird. 

City on Fire, von dem sich Tarantino (QT über City on Fire: „I loved City on Fire...It’s a great movie“) ganz offensichtlich auch zur Mr. White schießt mit gleich zwei Pistolen auf einen heranfahrenden Polizeiwagen und tötet die Insassen-Szene hat inspirieren lassen, denn „Fu“ Danny Lee tut in Ringo Lam’s Werk tatsächlich auf „verblüffend ähnliche“ Weise dasselbe, wurde nach dem Erscheinen von Reservoir Dogs - Wilde Hunde  bei den diversen City on Fire-DVD-Releases aus Werbezwecken durchaus als „Vorbild“ für das Tarantino-Debüt angeführt, und das DVD-Exemplar des Ringo Lam-Films, das ich persönlich besitze, trägt sogar folgende Aufschrift: „DIE VORLAGE FÜR TARANTINOS BAHNBRECHENDES MEISTERWERK RESERVOIR DOGS“.

 

Ursprünglich hatte sich der damalige Video-Store-Angestellte Tarantino darauf eingestellt, Reservoir Dogs - Wilde Hunde quasi im „Guerilla-Style“ in den Straßen von Los Angeles drehen zu müssen, und das lediglich „with his friends“, einem Budget von etwa 30.000$ und im „16mm black & white-format“. Tarantino’s Kumpel Lawrence Bender, der letztendlich dann Mitbegründer der berühmten Tarantino-/Bender-Produktionsgesellschaft „A Band Apart“ wurde (Anmerkung: Als Vorbild für den Firmennamen diente Jean-Luc Godard’s Film Bande á part, deutscher Titel: Die Außenseiterbande, aus 1964) und alle Tarantino-Filme (mit Ausnahme von Death Proof – Todsicher aus 2007) bis einschließlich Inglourious Basterds (2009) produzieren sollte, hätte dabei einen jungen „Police Officer“ gespielt, der „Mr. Pink“ hinterherjagt.

Nun, Bender sollte dann bekanntlich nicht eine der Hauptrollen in Reservoir Dogs - Wilde Hunde spielen, er ist aber derjenige, der das Reservoir Dogs-Projekt in der Folge erst so wirklich auf ein „höheres Level“ gebracht hat, indem er gleichsam die „Lawrence Bender gave the script to his acting teacher, whose wife gave the script to Harvey Keitel“-Legende begründet hat, auf die Tarantino und er in der Pulp Fiction-Zeit dann in so ziemlich jeder US-TV-Show angesprochen wurden, in der sie zu Gast waren. Und Fakt ist tatsächlich: Lily Parker, die Frau von Bender’s „acting teacher“ Peter Flood, gab Tarantino’s Drehbuch weiter an Harvey Keitel, und zwar deswegen, weil Bender einmal erwähnt hatte, dass -„in einer perfekten Welt“- Harvey Keitel seine und Tarantino’s allererste Wahl für die Rolle des „Mr. White“ wäre.

Keitel, der glücklicherweise zu Beginn der 90er-Jahre, nachdem ihn in den „70s“ Robert De Niro bei Scorsese gleichsam als dessen bevorzugter „Leading Man“ abgelöst hatte, wieder zu so etwas wie zum Lieblingsschauspieler einer ganzen Generation von US-Independent-Filmern wurde (ein absolutes Keitel-Highlight seinerzeit: Abel Ferrara’s Bad Lieutenant aus 1992), mochte das Reservoir Dogs-Skript von Anfang an, bezeichnete Tarantino’s Geschichte um Betrug, Vertrauen und Loyalität als „brillant geschrieben“ und das gesamte Drehbuch als „wichtig“ und als „eines der besten Drehbücher seit Jahren“.

Der überzeugte „method actor“ Keitel, der dann später bekanntlich nicht nur die Rolle von „The Wolf“ in Pulp Fiction spielen sollte, sondern auch den Part des Geistlichen „Jacob Fuller“ in Robert Rodriguez’s -nach einem Drehbuch von Tarantino entstandener- wüster „Gangster- & Vampirhorror-Film-Mischung“ From Dusk Till Dawn (1996; Co-Stars: George Clooney, Juliette Lewis & Quentin Tarantino), fungierte schließlich als „Co-Producer“ bei Reservoir Dogs - Wilde Hunde, was, wie vor allem Tarantino immer wieder angemerkt hat, nicht umgehend sozusagen sämtliche Türen öffnete, es aber ihm und Bender leichter machte, das Projekt finanziert zu bekommen (Anmerkung: Als offizielles Reservoir Dogs-Budget gilt der Betrag von 1,2 Millionen US-Dollar).

Eine endgültige Finanzierungszusage erhielt Tarantino dann schließlich durch Richard N. Gladstein’s Produktionsfirma „Live“. Gladstein, der spätere stellvertretende Generaldirektor von Miramax, erkannte ebenfalls sofort die Qualitäten des Reservoir Dogs-Skripts, das er aus den Händen des Filmregisseurs Monte Hellman erhalten hatte (Anmerkung: Bei Hellman hatte Tarantino einen Regie-Kurs am Sundance Institute absolviert – Hellman betreute das Reservoir Dogs-Projekt dann als „Executive Producer“), und meinte: „Quentin schafft es wirklich, den Sprachstil eines gewissen Milieus zu erfassen, und auch die Geschichte selbst ist mit ihren Zeitsprüngen einzigartig“.

Nachdem die Finanzierung geklärt war, führte eine lange und anstrengende Casting-Phase (denn: plötzlich herrschte sowohl bei alteingesessenen als auch bei jungen Schauspielern ein reges Interesse daran, ein Teil von Reservoir Dogs - Wilde Hunde zu sein) Tarantino und Bender schließlich nach New York, wo Harvey Keitel mit seinem eigenen Geld einige „casting sessions“ organisiert hatte.

Und diese Casting-Sessions waren auch der Ort, wo die beiden auf Steve Buscemi, Michael Madsen und Tim Roth trafen, also gleichsam ihren „Mr. Pink“, ihren „Mr. Blonde“ und ihren „Mr. Orange“ fanden (Anmerkung: Madsen und Roth gehören seit damals quasi zur „Tarantino-Gang“, denn Roth war nicht nur in Reservoir Dogs - Wilde Hunde zu sehen, sondern auch in Pulp Fiction, in der Episode „The Man from Hollywood“ aus Four Rooms sowie in dem Western The Hateful Eight (2015) - eine Rolle in dem großartigen Once Upon a Time in Hollywood von 2019 fiel der Schere zum Opfer, während Michael Madsen später auch Auftritte in Kill Bill Vol. 1 & 2, The Hateful Eight und Once Upon a Time in Hollywood hatte).

Steve Buscemi war seinerzeit, dank der Coen-Brothers-Geniestreiche Miller’s Crossing (1990; Regie: Joel Coen) und Barton Fink (1991; Regie: Joel & Ethan Coen), sicherlich der populärste Schauspieler im Reservoir Dogs-Ensemble nach Harvey Keitel und wurde in den Jahren nach dem Tarantino-Debüt zu einem der größten Stars des US-Independent-Kinos. Die Charaktere in Reservoir Dogs - Wilde Hunde fand der gebürtige New Yorker und „Mr. Pink“-Darsteller angeblich „witzig und schockierend“ zugleich, wobei Buscemi im Zusammenhang mit dem Werk auch folgende Aussage tätigte, die zutreffender nicht sein könnte: „Es ist eine Männergeschichte, aber nicht zwingend ein Männerfilm“.

 

 

(ENDE von TEIL 2 - Neu überarbeitete Fassung; Ur-Fassung: 07.03.2020)