Ausschnitt aus "NO PULP IN THE FICTION" (Buch; 2020): Kapitel "PULP FICTION" (Teil 2[von 4])

 

Skandal! – Skandal! – Verdammte Scheiße!

 

(Zwischenrufe einer Frau bei der Verleihung der Goldenen Palme in Cannes 1994, nachdem der damalige Jury-Präsident Clint Eastwood den Gewinner der „Palme d’Or“ bekannt gegeben hatte, nämlich Quentin Tarantino’s Pulp Fiction – Tarantino, auf der Bühne flankiert von Produzent Lawrence Bender sowie von Bruce Willis, John Travolta, Samuel L. Jackson & Maria de Medeiros, zeigt der Frau daraufhin kurz den Mittelfinger)

 

  

 

Gar nichts. Sie sind einfach das, was ich für cool halte

  

(Quentin Tarantino auf die Frage hin, was denn das Bahnbrechende an seinen Filmen sei; zitiert nach der Kultur-Spiegel-„Große Kinomomente“-DVD-Edition von Reservoir Dogs – Wilde Hunde)

 

 

 

To me, violence is a totally aesthetic subject. Saying you don’t like violence in movies is like saying you don’t like dance sequences in movies

&

Als sei die Vorliebe für Gewalt im Film das Gleiche wie Gewalt im wahren Leben. Ist sie eben nicht

 

(Zitat 1: QT über Gewalt als ästhetisches Mittel in Filmen - aus dem Projections 3-Interview mit Graham Fuller von 1993; Zitat 2: aus der 2002er-Doku Pulp Fiction: The Facts, in der sich QT nun ein wenig darüber beschwert, dass sich die „critics“ ständig nur auf die Gewaltdarstellung in seinen Werken konzentrieren und ihn selbst gleichzeitig zum „Brutalo“ oder, wenn man’s anders ausdrücken will, zum „Connaisseur exzessiver Gewalt“ hochstilisieren)

 

 

 

Ich versuche etwas zu nehmen, das man kennt. Ich mag es, respektiere es und ich liefere es sozusagen dann auch ab. Ich bin also nicht irgendein Pseudokünstler. Ich erfülle die Erwartungen, aber ich versuche gleichzeitig, es neu zu erfinden, etwas zu machen, das man ganz anders macht. So wie man es noch nie gesehen hat

 

(Quentin Tarantino 1994 zu Charlie Rose in dessen TV-Show über seinen Umgang mit Genre-Vorgaben der Gattung „crime film“)

  

 

Grundsätzlich muss man sich, was Tarantino’s zweiten Film Pulp Fiction betrifft, fragen, wieviel „Pulp“ (dem Film vorangestellte „Schund“-Definition – weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund: „PULP (pulp) n. 1. A soft, moist, shapeless mass of matter. 2. A magazine or book containing lurid[blutrünstig, widerlich, grauslich] subject matter and being characteristically printed on rough, unfinished paper American Heritage Dictionary: New College Edition“) hier überhaupt in der „Fiction“ ist, denn: Allzu viel „Schund“ konnte ich darin nie entdecken und Pulp Fiction zählt nicht nur zu den besten, sondern auch zu den elegantesten & stilvollsten Filmen aller Zeiten (Anmerkung: Einen großen Teil zum hohen Eleganz-Faktor von Pulp Fiction trägt im Übrigen die Tatsache bei, dass der Film seinerzeit auf 50 ASA-Filmmaterial gedreht wurde, das bekannt war für „nichtkörnige“ & „glänzende“ Bilder, die dem „Technicolor“-Effekt der 50er-Jahre am nächsten kommen).

Und selbst Tarantino hatte, nachdem das Drehbuch fertiggestellt war, irgendwie das Gefühl, dass die ursprüngliche Intension, nämlich ein Werk zu schaffen, das auch eine Art Verbeugung ist vor den „pulp magazines“ und Dashiell Hammett- & Raymond Chandler-artigen „hard-boiled crime novels“ der 30er-, 40er- und 50er-Jahre, nicht mehr so wirklich spürbar war (QT: „The idea behind `Pulp Fiction´ was to do a ´Black Mask´ movie – like that old detective story magazine. […] But it’s really not like that at all; it kind of went somewhere else“; Anm.: „Black Mask“ war ein amerikanisches „pulp magazine“ oder „hard-boiled detective magazine“, das zwischen 1921 und 1951 von dem Journalisten H. L. Mencken und dem Theaterkritiker George Jean Nathan herausgegeben wurde – man hat es oft als „the greatest American hard-boiled detective magazine of all time“ bezeichnet).

Am Skript zu Pulp Fiction hat Tarantino rund zehn Monate, von März 1992 bis Jänner 1993, gearbeitet, wobei der Schreibprozess, in dessen Zentrum eben die „several stories of criminal L.A.“ oder, wenn man so will, die „THREE STORIES…ABOUT ONE STORY…“ (Untertitel der 1999 bei Faber & Faber erschienenen Drehbuch-Ausgabe) standen, nicht in den USA begonnen hatte, sondern tatsächlich in Europa, genauer: in Amsterdam, wo sich Tarantino ein paar Monate im „Winston Hotel“ im Amsterdamer Rotlichtviertel einquartiert hatte. 

Der Umstand, dass Pulp Fiction zum Teil in Amsterdam geschrieben wurde, hat sich bekanntlich auch im fertigen Film niedergeschlagen (QT: „I finally moved to Amsterdam for a couple of months and started writing `Pulp Fiction` there. […] Even though the movie takes place in Los Angeles, I was taking in all this weird being-in-Europe-for-the-first-time-stuff and that was finding its way into the script. So some genre story […] started becoming very personal as I wrote it. That’s the only way I know how to make the work any good – make it personal“; Anm.: Der letzte Teil des Zitats ist eine Art Anlehnung an das berühmte Martin Scorsese-Credo, dass das Persönliche immer das Kreativste ist), denn einige der populärsten Dialogsequenzen zwischen „Vincent Vega“ John Travolta und „Jules Winnfield“ Samuel L. Jackson beziehen sich auf Amsterdam oder generell auf Europa (z. B.: VINCENT zu JULES – laut Skript: „But you know what the funniest thing about Europe is? […] It’s the little differences. I mean, they got the same shit over there that we got here, but it’s just, just, there it’s a little different“ oder „[…] And, you know what they call a Quarter-Pounder with Cheese in Paris? […] They call it a Royale with Cheese“).

Zu Tarantino nach Amsterdam gesellte sich damals für einige Zeit auch sein Freund Roger Avary (drehte 1994 als Regisseur auch den „Tarantino-produced crime film“ Killing Zoe mit „Lance“-Darsteller Eric Stoltz in der Hauptrolle), der nicht nur maßgeblichen Anteil an der „GOLD WATCH“-Geschichte hat, sondern generell in den „credits“ als Co-Lieferant der drei Pulp Fiction-Stories angeführt wird („Stories by Quentin Tarantino & Roger Avary“) – Avary’s Beitrag zu Pulp Fiction ist insgesamt tatsächlich nicht zu unterschätzen, denn Avary war bereits 1990 Teil eines geplanten Kurzfilmprojektes gewesen, bei dem Tarantino und er einen „3-Episoden-Film“ produzieren wollten, dessen „initial inspiration“ der in Italien entstandene 3-teilige Horror-Anthologie-Film Die drei Gesichter der Furcht (1963; I tre volti della paura; US-Verleihtitel: Black Sabbath[!]) von Giallo- & Horror-Kult-Regisseur Mario Bava war (Anmerkung: Auch Bava’s Die drei Gesichter der Furcht hat, wie eben Pulp Fiction, eine Art „kreisförmige Erzählstruktur“, denn die dritte Horror-Story „Der Wassertropfen“ beginnt gleich wie die erste Story „Das Telefon“).

Der Arbeitstitel des Kurzfilmprojekts lautete damals im Übrigen „Black Mask“ und aus einer der geplanten Episoden wurde -im Grunde- später Tarantino’s Debüt Reservoir Dogs – Wilde Hunde, während aus Avary’s Abschnitt (betitelt mit „Pandemonium Reigns“) dann mehr oder weniger „THE GOLD WATCH“ wurde. Darüber hinaus wurden zwei von Avary ursprünglich für True Romance geschriebene Szenen (Anmerkung: Das True Romance-Drehbuch gilt dennoch als alleiniges Drehbuch-Debüt von Tarantino und ist sozusagen „fully credited to QT“) in Pulp Fiction eingebaut, nämlich „the `miraculous` missed shots by the Fourth Man“ sowie „the rear seat automobile killing“, die beide in der dritten Episode „THE BONNIE SITUATION“ vorkommen. Dass am Ende von Pulp Fiction schließlich ein „WRITTEN & DIRECTED BY QUENTIN TARANTINO“ erscheinen konnte, war letzten Endes Roger Avary zu verdanken, der zustimmte, nur als zweiter „Story-Lieferant“ angeführt zu werden und eben nicht als Co-Autor des Drehbuchs.

  

Nun, 1992 in Amsterdam nahm Tarantino die Ur-Idee von den 3-Geschichten-in-einem-Film wieder auf und die von ihm (und Avary) erfundenen Charaktere sollten in diesen drei Geschichten gleichsam von einer Story in die andere „springen“, einmal dabei sozusagen als Hauptdarsteller auftauchen, dann wieder nur in einer Nebenrolle, was eben die Fortführung von etwas bedeutete, das Tarantino schon in Reservoir Dogs – Wilde Hunde erprobt hatte, nämlich die Anwendung von Regeln der Literatur und des Romans auf das Medium Film (QT: „I got the idea of doing something that novelists get a chance to do but filmmakers don’t: telling 3 seperate stories, having characters float in and out with different weights depending on the story“).

Das, was Pulp Fiction dann zusätzlich absolut einzigartig macht, ist natürlich die Tatsache, dass der Film auch „out of chronological order“ erzählt ist und dabei noch ein „circular narrative“ ist, soll heißen: eine „kreisförmige Plot-Struktur“ aufweist, bei der am Ende quasi zum Ausgangspunkt zurückgekehrt wird, also dorthin, wo „Story & Action“ begonnen haben (QT 1994 in der Charlie Rose-Show: „Nein, ich bin [bei Reservoir Dogs & Pulp Fiction] nicht etwa gegen die lineare Erzählweise zu Feld gezogen, aber sie ist nicht der einzige Weg zum Ziel“).

 

Wenn man die Struktur von Pulp Fiction noch etwas genauer, als das in der Inhaltsangabe geschehen ist, festmachen will, so kann man insgesamt sieben Abschnitte hervorheben: Den Prolog im Diner(I), das „Vorspiel zu Vincent Vega and Marsellus Wallace’s Wife“(II), die Haupt-Story 1 „Vincent Vega and Marsellus Wallace’s Wife“(III), das „Vorspiel zu The Gold Watch“(IV), die Haupt-Story 2 „The Gold Watch“(V), die Haupt-Story 3 „The Bonnie Situation“(VI) und schließlich den Epilog im Diner(VII).

Würde man die „Events“ chronologisch ordnen, dann stünde am Anfang das „The Gold Watch-Vorspiel“ mit dem 5-jährigen Butch und der bizarren Geschichte rund um das Erbstück. Schließlich käme das „Vorspiel zur Haupt-Story 1“, dann die „Haupt-Story 3“, dann der Prolog, dann der Epilog, dann die „Haupt-Story 1“, dann der zweite Teil des „Vorspiels zu The Gold Watch“, also jener Part, in dem Butch vor dem Boxkampf in seiner Garderobe erwacht, und am Ende dann „The Gold Watch“, was gleichzeitig heißt, dass der Film, wäre er eben chronologisch erzählt, damit enden würde, dass Butch & Fabienne auf Zed’s Chopper davonrasen (QT: „Ich glaube nicht, dass `Pulp Fiction`, dem ganzen Hin und Her und Auf und Ab zum Trotz, und trotz des großen Bogens, schwer ist anzusehen. Aber man muss gut hinsehen. Ich erwarte, dass man hinsieht. Man kann nicht dabei Kreuzworträtseln lösen, während man sich den Film ansieht“; Quelle: Charlie Rose-Show 1994).

  

Was die drei „main interrelated stories“ betrifft, so ging es Tarantino vor allem darum, Situationen, die man bereits „a zillion times“ (Copyright: QT) in diversen Filmen gesehen hat, neu aufzubereiten (QT: „Ich finde, der Trick besteht darin, diese Film- und Genre-Figuren in Genre-Situationen mit den Regeln des wirklichen Lebens zu konfrontieren, um zu sehen, wie sie sich entwickeln“). Die Basis von „Vincent Vega and Marsellus Wallace’s Wife“ bildete, gibt man Tarantino’s Ausführungen in der Dokumentation Pulp Fiction: The Facts sinngemäß wieder, gleichsam die alte Geschichte vom Gangsterboss, der einen seiner Gangster dazu abkommandiert, sich um seine Frau zu kümmern, verbunden mit der Auflage, dass er dieser aber natürlich nicht zu nahe kommen darf. Die zweite Story, „The Gold Watch“, handelt von dem Boxer, der einen bestimmten Kampf verlieren soll, es aber nicht tut. Story Nummer drei, „The Bonnie Situation“, ist hingegen, laut Tarantino, nicht klassisch, sondern fast ein Klischee: Ein paar Berufskiller tauchen auf, legen jemanden um und verschwinden wieder (QT: „Jeder zweite Joel Silver-Film fängt damit an […]. Dann schneiden sie zu Arnold Schwarzenegger irgendwo anders hin. […] Wir [jedoch] verbringen den ganzen Morgen mit ihnen. Und wir sehen, was ihnen an dem Morgen zustößt“; Anm.: Joel Silver: Produzent von Action-Klassikern wie Lethal Weapon – Zwei stahlharte Profis, Stirb langsam oder Matrix).

 

Tarantino’s später bekanntlich Oscar-prämiertes Drehbuch, das tatsächlich haufenweise „profanity“[„Respektlosigkeiten“, Obszönitäten] aufweist und „packed with hip allusions[Anspielungen] to everything and anything in pop culture“ (Copyright: Time Out-Magazin) ist, wurde anfangs von Tri Star-Pictures, die das fertige Skript aus den Händen des damaligen A Band Apart-Kollaborationspartners Jersey Films als Erstes erhielten, ganz und gar nicht begeistert aufgenommen. Im Gegenteil: Tri Star fand Tarantino’s Meisterstück des non-linearen Erzählens „zu verrückt“ und weigerte sich schon grundsätzlich einen Film zu unterstützen, der einen „heroin user“ zeigt. Hier eine Auswahl weiterer -wenig schmeichelhafter- Wortspenden aus der Tri Star-Ecke bezüglich des Pulp Fiction-Skripts: „[W]orst thing ever written“/[I]t makes no sense“/[S]omeone’s dead and then they’re alive“/[T]oo long, violent, and unfilmable“.

An dieser Stelle kam die Produktionsgesellschaft Miramax ins Spiel, die damals bekanntlich von Bob Weinstein sowie von seinem Bruder Harvey Weinstein, dem nunmehr verurteilten Sexualverbrecher und traurigem Beispiel für die Verquickung von Machtmissbrauch und „sexual abuse“ in Hollywood, angeführt wurde.

Die Verantwortlichen bei Miramax jedenfalls mochten das Pulp Fiction-Skript und Pulp Fiction wurde der erste Film, der dort nach der Übernahme durch den Disney-Konzern sozusagen grünes Licht bekam und, darüber hinausgehend, dann auch von Miramax vollständig finanziert wurde.

Tarantino und sein Produzent und A Band Apart-Kollege Lawrence Bender erhielten letztendlich 8,5 Millionen US-Dollar an Budget – ein nicht gerade geringer Teil davon, nämlich 150.000$, ging für den Aufbau des „Jackrabbit Slim’s“ in Culver City drauf.

Allerdings war Tarantino niemand, und davon hatte man sich schon bei Reservoir Dogs – Wilde Hunde überzeugen können, der sich von geringen Budgets „einschüchtern“ oder ernsthaft beschränken ließ, denn sein Credo für Pulp Fiction lautete: „I wanted it to look like a $20-25 million movie. I wanted it to look like an epic in everything“.

 

 

(ENDE von TEIL 2 - Neu überarbeitete Fassung; Ur-Fassung: 01.04.2020)